Die Nato hat seit ihrer Gründung vor 75 Jahren viele Krisen gemeistert. Doch überlebt das Bündnis eine mögliche zweite Amtszeit von Donald Trump? Zum Jubiläum stellen sich unangenehme Fragen.
So groß wie nie zuvor und so stark wie schon lange nicht mehr: Zum 75. Geburtstag präsentiert sich die Nato nach außen hin in Topform.
Bei einem Festakt im Hauptquartier in Brüssel soll an diesem Donnerstag gefeiert werden, dass es seit der Gründung des Verteidigungsbündnisses weder Russland noch ein anderer Staat gewagt haben, ein Nato-Land anzugreifen. Hinter den Kulissen ist die Stimmung allerdings vielerorts düster. Neue Vorschläge von Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigen, wie groß die Sorgen vor einem möglichen Machtwechsel in den USA sind. Und es stellt sich die Frage, ob die nach eigener Darstellung erfolgreichste Militärallianz aller Zeiten nicht um ihre Zukunft bangen muss.
Ein Überblick zur Lage:
Das Szenario Trump
Auch wenn Spitzenpolitiker in der Öffentlichkeit nicht darüber reden wollen: Wohl kaum ein anderes Szenario sorgt in der Nato in diesen Tagen für so viel Beunruhigung wie eine mögliche Rückkehr des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump ins Weiße Haus. Der Republikaner machte zuletzt bei einem Wahlkampfauftritt deutlich, dass er Bündnispartnern mit geringen Verteidigungsausgaben im Fall eines russischen Angriffs keine amerikanische Unterstützung gewähren würde. Und in einem Interview mahnte er: Man dürfe nicht vergessen, dass die Nato wichtiger für Europa sei als für die USA, denn es liege ein Ozean, „ein schöner, großer, herrlicher Ozean“ zwischen den USA und „einigen Problemen“ in Europa.
Problematisch ist all dies, weil die Nato als Verteidigungsbündnis auf das Prinzip Abschreckung setzt. Für dieses ist Artikel 5 des Nordatlantikvertrags relevant. Er regelt die Beistandsverpflichtung in der Allianz und besagt, dass ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere Alliierte als ein Angriff gegen alle angesehen wird.
Reizthema Verteidigungsausgaben
Indem Trump deutlich macht, dass Alliierte mit aus seiner Sicht zu niedrigen Verteidigungsausgaben unter ihm als Präsident nicht auf US-Hilfe zählen könnten, konterkariert er das Abschreckungsprinzip. Besonders kritisch ist die Sache für die Nato, weil die USA eine atomare Supermacht sind, deren Abschreckungspotenzial von anderen Alliierten nicht kompensiert werden kann – und etliche europäische Nato-Staaten das gemeinsame Bündnisziel für Verteidigungsausgaben weiter nicht erfüllen.
Wie ernst die Sache gesehen wird, zeigen die jüngsten Äußerungen von Nato-Generalsekretär Stoltenberg in der Debatte. Der Norweger reagierte ungewöhnlich scharf auf die Äußerungen Trumps und sagte: „Jede Andeutung, dass die Verbündeten sich nicht gegenseitig verteidigen werden, untergräbt unsere gesamte Sicherheit, einschließlich die der USA“.
Kein US-Penny mehr für die Ukraine?
Als ein Horrorszenario in Europa gilt zudem, dass Trump die US-Unterstützung für die von Russland angegriffene Ukraine einstellen könnte. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban erzählte jüngst nach einem Treffen mit dem Republikaner, dieser habe ihm gesagt, er werde im Fall einer Rückkehr ins Präsidentenamt „keinen einzigen Penny“ mehr für den Krieg ausgeben.
Vorsorglich hat Stoltenberg bereits intern vorgeschlagen, dass künftig eine Nato-Mission die bislang von den USA organisierte Koordinierung von Waffenlieferungen für die ukrainischen Streitkräfte übernehmen sollte. Zudem will er die Bündnispartner dazu bewegen, der Ukraine noch vor der US-Präsidentenwahl für die kommenden fünf Jahre militärische Unterstützung im Wert von 100 Milliarden Euro zuzusagen.
Typ Scholz vs. Typ Macron
Selbst wenn das Szenario Trump nicht eintritt und Joe Biden weitere vier Jahre US-Präsident bleibt, könnte der Ukraine-Krieg zu einer gefährlichen Zerreißprobe für die Nato werden. Mit den zunehmenden Kosten und der schwierigen Lage an der Front stiegen zuletzt die Spannungen unter Bündnispartnern.
Dabei gibt es zum Beispiel einerseits Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die aus Sorge vor einer weiteren Eskalation bestimmte Waffen wie Taurus-Marschflugkörper nicht an die Ukraine liefern wollen – und andererseits Staatschefs wie den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die schon allein aus Abschreckungsgründen einen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließen wollen. Als vollkommen unklar gilt derzeit, wie die Nato reagieren würde, wenn russische Truppen an der Front wieder größere Erfolge erzielen sollten und erneut ein Fall von Kiew drohen sollte.
Streitthema China
Das alles erinnert ein wenig an die Nato während der Amtszeit von Trump von 2017 bis 2021. Macron attestierte dem Bündnis damals wegen mangelnder Abstimmung der Alliierten den „Hirntod“.
Wie egoistisch Nato-Staaten selbst in heutigen Krisenzeiten vorgehen, zeigte sich zuletzt, als Schweden und Finnland der Nato angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine möglichst schnell beitreten wollten. Die Alliierten Türkei und Ungarn verzögerten den Aufnahmeprozess bei Schweden um fast zwei Jahre – unter anderem, um Zugeständnisse bei Rüstungsgeschäften zu erzwingen.
Und gestritten wird derzeit hinter den Kulissen auch um den Umgang mit China. Die USA drängen darauf, dass sich die Nato künftig deutlich mehr mit Bedrohungen durch die aufstrebende Großmacht beschäftigt. In Ländern wie Frankreich oder Deutschland wird hingegen befürchtet, dass Washington das Bündnis auch für den wirtschaftlichen Machtkampf mit Peking nutzen will und Konflikte weiter verschärft werden könnten.
Weltpolizei-Einsätze sind Geschichte
Hoffnung kann Nato-Anhängern unterdessen machen, dass es die Allianz bislang stets geschafft hat, sich anzupassen. Nachdem das Bündnis am 4. April 1949 in Reaktion auf die als bedrohlich wahrgenommene Politik der kommunistischen Sowjetunion gegründet worden war, war es im Kalten Krieg dafür zuständig, der östlichen Militärmacht ein abschreckendes Gegengewicht entgegenzusetzen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 90er-Jahre nahm die Nato dann zeitweise die Rolle einer Art Weltpolizei ein.
So griff sie unter anderem in die Konflikte in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Libyen ein und spielte nach den islamistischen Anschlägen gegen die USA vom 11. September 2001 eine Schlüsselrolle im Krieg gegen die Taliban und die Terrororganisation Al Kaida in Afghanistan. Zum ersten Mal wurde damals für die USA Artikel 5 aktiviert, wonach ein bewaffneter Angriff auf ein Nato-Mitglied als Angriff gegen alle Mitglieder gewertet wird. Das Bündnis erlebte dann 2021 das vielleicht größte Debakel in seiner Geschichte, als der Rückzug aus Afghanistan in der Wiedereroberung des Landes durch die Taliban endete.
Aufrüsten für Abschreckung und Verteidigung
Spätestens seit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine redet davon aber kaum jemand mehr und der Schwerpunkt der Nato liegt wieder ganz klar auf Abschreckung und Verteidigung gegen Russland. Vor allem östliche Bündnispartner fürchten, dass Kremlchef Wladimir Putin auch einen Angriff auf das Baltikum in Erwägung ziehen könnte – insbesondere dann, wenn seine Truppen in der Ukraine erfolgreich sind und die Nato intern zerstritten wirkt.
Am Donnerstag bei der Nato-Geburtstagsfeier mit den Außenministern der Mitgliedstaaten dürfte deswegen versucht werden, einen ganz anderen Eindruck zu erwecken. Gemeinsam will man einmal mehr den Zusammenhalt beschwören und Botschaften der Abschreckung an Putin senden. „Alle für einen, einer für alle“, wird dann der Satz heißen, der von den mittlerweile 32 Nato-Staaten als Botschaft in die Welt gehen soll.