An diesem Sonntag wird Gerhard Schröder 80. Passend dazu zeigt die ARD ihre Dokumentation über einen Mann, der die Untugend der Uneinsichtigkeit perfektioniert hat.

Blauweiß wölbt sich der Himmel über dem Parkareal des Golfplatzes nahe Hannover. Die an hohen Masten sanft flatternden Fahnen zeugen von einem angenehmen Sommerwind. Ein dunkler VW-Bus fährt vor, heraus steigt der einzig lebende Altkanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er befindet sich im 80. Jahr seines Lebens und wirkt ausgesprochen agil. Das Haar ist voll, das Gesicht gebräunt, das Lächeln breit.

„Moin“, sagt Gerhard Schröder. „Hallo, Herr Schröder“, antwortet der Reporter und begrüßt Gattin Nummer drei. „Hallo, Frau Schröder-Kim.“ Beste Stimmung im Resort.

So beginnt der einstündige Film „Außer Dienst? Die Gerhard Schröder Story“. Der Reporter, er heißt Lucas Stratmann, hat den Mann, der von 1998 bis 2005 Deutschland regierte, für mehrere Monate begleitet. Herausgekommen ist das sehenswerte Porträt eines notorisch Uneinsichtigen. 

Gerhard Schröder, ein Ex-Regierender im Dienste Putins

Ach ja, „diese Auseinandersetzungen“, sagt Schröder auf dem leuchtenden Grün des Golfplatzes. „Die haben ja zu tun mit dem Krieg, der da geführt wird – und den ich öffentlich abgelehnt habe.“ Die linke, weiß behandschuhte Hand des Altkanzlers vollführt eine verächtliche Geste. „Will aber keiner wissen!“ Naja, auch egal.

Der Krieg, vom dem Schröder spricht, genauer: der Angriffskrieg auf die Ukraine, hat ihn endgültig von seiner SPD entfremdet — und vom größeren Rest der Bundesrepublik gleich mit. Schon dass er sich nach dem Ende seiner Amtszeit beim russischen Staatskonzern Gazprom verdingte, hatten ihm viele übel genommen. Aber dass er nach der russischen Annexion der Krim und schließlich gar nach der Invasion der Ukraine an seiner Männerfreundschaft mit Wladimir Putin festhielt: Diese stupende Sturheit hat ihm in großen Teilen der Gesellschaft zum Paria gemacht. Die SPD wollte ihn ausschließen, der Bundestag seine Bürogelder kürzen, wobei beides nicht so richtig funktionierte.PAID 32_22 Exklusiv-Interview Gerhard Schröder 05.55

Schröder ficht das alles sowieso nicht an. Ob er die Debatte über sich als ungerecht empfunden habe, fragt Reporter Stratmann. „Mindestens das, natürlich“, antwortet Schröder, der nun im offenkundig teuren Anzug in seiner mondän eingerichteten Kanzlei sitzt. Wieder folgt eine wegwerfende Geste. „Aber gut, so ist das nun mal.“ Er habe ja schon so viele Ungerechtigkeiten aushalten müssen. 

Realpolitischer Elder Statesman, so will er sich sehen

Schröder, was sonst, sieht sich als Opfer. Immerhin gibt er sich dabei immer noch so arrogant-lässig wie zu jener Zeit, als er im Berliner Kanzleramt residierte. Dennoch, auch das zeigt der Film sehr deutlich, arbeitet es natürlich in ihm. Die SPD, sagt er etwa an einer Stelle, sollte sich lieber mal nicht um seine Mitgliedschaft kümmern, sondern darum, dass sie in den Umfragen hinter der AfD liege.

Ansonsten zeichnet Schröder von sich das Bild eines realpolitischen Elder Statesmen, eines Henry Kissinger aus Hannover. Mit der sogenannten wertebasierten Agenda der grünen Außenministerin kann er deshalb auch überhaupt nichts anfangen. Dass Annalena Baerbock den chinesischen Präsidenten Xi Jinping als Diktator bezeichnete, ist für ihn schlicht „überflüssig“. „Ich halte das für eine außerordentliche Fehlentwicklung, was da an außenpolitischem Porzellan zerschlagen wird“, sagt er.

Gerhard Schröder (SPD), Bundeskanzler von 1998 bis 2005, aufgenommen in seiner Kanzlei.
© Michael Kappeler

Der Film offenbart kaum etwas Neues. Aber er erklärt noch einmal sehr eindrücklich, warum der Mann ein politisches Alpha-Tier ist und Wahlen gewann. Denn Schröder schafft es immer noch, seinen leicht öligen Altherren-Paternalismus als Charisma zu verkaufen. Sogar die joviale Ihr-könnt-mich-mal-Attitüde wirkt streckenweise beinahe sympathisch.

Erst die Wirtschaft, dann die Moral

Ein längerer Abschnitt des Films zeigt Schröders gescheitertem Versuch, unmittelbar nach dem Kriegsausbruch bei Verhandlungen in Istanbul und im Gespräch mit Putin in Moskau zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. „Haben Sie denn auch gefragt, wieso er das überhaupt angefangen hat…?“, fragt der Reporter. Da lacht der Altkanzler über so viel angebliche Naivität. „Also, hören ’se mal, wir machen hier doch kein Märchen! Wenn ich, wenn ich sozusagen, wenn ich … so, so führt man doch keine Verhandlungen auf der Ebene! Es doch nicht, also Entschuldigung: Es geht doch nicht um eine moralische Frage da. Es geht darum, einen Konflikt zu beenden. Da nützt es doch überhaupt nichts, wenn man da anfängt, zu moralisieren.“

Erst kommt die Wirtschaft, dann die Moral: Dies bleibt das Credo Schröders, der zu seiner Regierungszeit „Genosse der Bosse“ genannt wurde. Deshalb fliegt er, so wie er dies schon gerne in seiner Amtszeit tat, selbstverständlich auch im hohen Alter nach China, nur dass diesmal nicht die deutschen Steuerzahler dafür aufkommen, sondern irgendwelche chinesische Unternehmen, die er besucht, zu denen er aber, wie er betont, ansonsten „keine Beziehungen“ habe. 

Die Reise von Hotel zu Betrieb und Betrieb zu Hotel trägt teils tragikomische Züge, etwa dann, wenn die sozialistische Jugend für den Ehrengast rote Fähnchen schwenkt oder die Ehefrau wieder einmal damit beschäftigt ist, ihren Altkanzlergatten per Handy zu fotografieren oder ihm die Fusseln vom Anzug zu wedeln. 

Was Schröder antreibt? Es scheint so, als funktioniere er immer noch wie damals, als er am Tor des Kanzleramts in Bonn rüttelte: Er, der, wie er einst sagte, als „Asozialer“ in ärmsten Verhältnissen aufwuchs, will es immer noch allen zeigen. Er ist der ungezähmte Widerspenstige. „Ich hab‘ mein Leben lang in der Politik mit Kritik gelebt und werde das auch weiter so tun“, sagt er. „Und wer meint, sich reiben zu müssen, Herrgott, dann soll er’s tun.“

Außer Dienst? Die Gerhard Schröder Story. 8. April 2024, ARD, 21 Uhr