Seit Monaten wird in Serbien fast täglich demonstriert. Nun steht der EU-Beitrittskandidat vor einer der größten Demonstrationen seiner Geschichte. Der Auslöser war ein Unglück.

Die Wut ist groß in Serbien, und sie bricht sich Bahn in historischen Massendemonstrationen. Unter dem Motto „Am 15. für die 15“ versammeln sich Protestierende im Zentrum der Hauptstadt Belgrad.

Warum demonstrieren so viele Menschen?

„Am 15. für die 15“ spielt auf das Unglück in der nordserbischen Stadt Novi Sad am 1. November an, bei dem ein Bahnhofsvordach einstürzte und 15 Menschen ums Leben kamen. Die Katastrophe löste eine beispiellose Protestwelle aus – seit November kommt es in Serbien fast täglich zu Protesten.

Wer geht in Serbien auf die Straße?

Die Proteste werden vor allem von den Studierenden des Landes getragen. Stunden vor der für Samstagnachmittag angekündigten Großdemonstration versammelten sich Tausende Regierungsgegner in der Hauptstadt Belgrad. Schon am Freitagabend waren dem Innenministerium zufolge 31.000 Menschen in der Stadt versammelt, um die Ankunft der Demonstrierenden zu feiern. 

Aus dem ganzen Land reisen Tausende Studentinnen und Studenten nach Belgrad – zu Fuß, per Fahrrad oder mit dem Traktor. Große Gruppen von jungen Leuten hatten in zum Teil mehrtägigen Fußmärschen beträchtliche Distanzen zurückgelegt, etwa aus dem zentralserbischen Kragujevac (140 Kilometer) oder der nördlichen Grenzstadt Subotica (190 Kilometer), berichtet die Nachrichtenagentur DPA.

Was fordern die Demonstranten?

Die Teilnehmer der Proteste machen die Korruption der Regierenden unter dem teils autoritär herrschenden Präsidenten Aleksandar Vucic für das Unglück in Novi Sad verantwortlich. Der Bahnhof war kurz davor umgebaut worden. Sie fordern aber nicht den Rücktritt von Politikern, sondern die konsequente Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und die Bestrafung von korrupten Akteuren. 

Was machen die Regierung und ihre Unterstützer?

Vucic hatte die Lage in den vergangenen Tagen mit Warnungen vor gewaltsamen Zusammenstößen weiter angeheizt. Der Präsident rief zu einer Gegendemonstration auf und warnte vor „massiver Gewalt“ der regierungskritischen Demonstrierenden. Da in Belgrad bereits Hooligans, Kriegsveteranen und andere ultranationalistische Anhänger des Präsidenten gesichtet wurden, werden Übergriffe auf die Protestierenden befürchtet. EU und UNO riefen die Regierung in Belgrad deshalb dazu auf, das Demonstrationsrecht zu respektieren und Gewalt zu vermeiden.

„Wir sind ein extrem demokratisches Land“, versuchte der Präsident die Bedenken am Freitagabend in einer Ansprache zu beruhigen. „Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um die Demonstration abzusichern“, kündigte er an. Gleichzeitig drohte Vucic, als Präsident werde er nicht zulassen, „dass die Straße die Regeln diktiert“.

Geht die Regierung gegen die Demonstranten vor?

Regierungsangaben zufolge wurden bereits am Freitag sechs Aktivisten festgenommen. Sie stünden im Verdacht, „Aktionen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und die Sicherheit in Serbien“ geplant zu haben. „Was sich alle fragen, ist, ob die Regierung versuchen wird, Gewaltsituationen herbeizuführen, um anschließend einen Vorwand für die Ausrufung des Ausnahmezustands zu haben“, sagte der Experte Srdjan Cvijic vom Belgrader Zentrum für Sicherheitspolitik.

Die größte Demonstration sollte am Samstag gegen 16 Uhr beginnen. Studierendenverbände riefen in Onlinemedien dazu auf, „ruhig und verantwortungsvoll“ zu demonstrieren. „Das Ziel der Bewegung ist es nicht, in Institutionen einzudringen oder diejenigen anzugreifen, die anders denken als wir“, hieß es. „Diese Bewegung darf nicht missbraucht werden.“

Wie könnte es in Serbien weiter gehen?

Klar ist: Die serbische Regierung steht wegen der Protestwelle unter wachsendem Druck. Anfang des Monats verabschiedete das Parlament ein Gesetz, wodurch die Studiengebühren um bis zu 50 Prozent gesenkt werden – eine Forderung der seit Monaten demonstrierenden Studenten. Dennoch weiten sich die Demonstrationen eher aus und neben jungen Leuten beteiligen sich auch weitere Bevölkerungsgruppen.

Ende Januar erklärte Ministerpräsident Milos Vucevic seinen Rücktritt. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic ruft abwechselnd zum Dialog auf oder macht ausländische Einmischung für die Proteste verantwortlich – ein Vorwurf, den auch Kremlchef Wladimir Putin nach einem Telefonat mit Vucic geäußert hatte. Der serbische Präsident verfolgt eine eher russlandfreundliche Politik, so schloss sich sein Land bislang nicht den westlichen Sanktionen gegen das kriegsführende Russland an.

Serbien ist seit 2012 EU-Beitrittskandidat. Die Aussichten auf einen Beitritt des Landes gelten derzeit aber als gering, da Belgrad zunächst grundlegende Reformen verabschieden müsste.