Sie wog mal 340 Kilogramm: Ohne Diät hat die Comedienne Nicole Jäger ihr Gewicht halbiert. Doch glücklich wurde sie erst, als sie ihre Einstellung zum Leben änderte.
Nicole Jägers schwarze Katze „Maus“ springt auf den Schoß der 42-jährigen Comedienne. Hinter ihr leuchtet eine Lichterkette an der Wand. Ihr Haus in Hamburg ist vollgestellt mit Pflanzen und kleinen Buddhafiguren.
Frau Jäger, wie viele Kommentare hören Sie täglich von fremden Menschen über Ihr Gewicht?
Wenn ich in Hamburg über den Jungfernstieg laufe, sind es etwa 15 bis 20 Kommentare.
So viele?
Manchmal sind es statt Kommentaren auch diese Blicke, die Menschen sich zuwerfen, wenn sie einander auf eine Person aufmerksam machen wollen. Oder sie stupsen sich gegenseitig an, wenn sie mich sehen. Es nervt mich, wenn Männer das machen, aber ich hasse es, wenn Frauen es tun. Die sollen sich doch lieber freuen, dass sie selbst keine Gewichtsprobleme haben. Ich halte es da mit der ehemaligen Außenministerin der USA, Madeleine Albright: Es gibt in der Hölle einen speziellen Platz für Frauen, die andere Frauen nicht unterstützen.
Kommentare über Ihren Körper bekommen Sie aber nicht nur auf der Straße, sondern auch bei Arztbesuchen.
Ja, und ich habe wirklich größten Respekt vor diesem Beruf, aber es ist nicht die Aufgabe eines Arztes, dass ich mich nach einer Untersuchung elend fühle. Dafür haben sie nicht den hippokratischen Eid abgelegt. Ich werde die Ärztin nie vergessen, die mich ansah, als ich mit 340 Kilogramm in die Praxis kam, und sagte: „Tun Sie mir bitte einen Gefallen? Sterben Sie nicht hier in der Praxis. Ich habe keine Ahnung, wie ich Sie hier rausbekommen soll.“
Nicole Jäger, 42, ist Stand-up-Comedian und Autorin. Ihr erstes Buch „Die Fettlöserin“ wurde zum Bestseller. Daraus entwickelte Jäger ihr Comedy-Programm. Es folgten weitere Bücher und zahlreiche Auftritte. Aktuell ist sie mit dem Programm „Walküre“ auf Tour
© Henning Heide
Das hat eine Ärztin zu Ihnen gesagt?
Es war ihre erste Reaktion, als sie mich sah. Seitdem bin ich sehr wählerisch bei Ärzten. Meiner neuen Gynäkologin habe ich von meinen schlechten Erfahrungen erzählt und ihr gesagt: „Ich weiß, wie ich aussehe. Ich finde, als Ärztin sollte Ihnen das nichts ausmachen, aber wenn Sie als Mensch damit Probleme haben, würde ich gern darüber sprechen und dann einfach wieder gehen.“
Was war die Antwort?
„Wenn Sie sich trauen, die Untersuchung zu beginnen, dann legen wir los.“ Ich habe gelernt: Es hilft, mit anderen zu sprechen. Und: Man muss sich von niemandem schlecht behandeln lassen.
Sie haben 2016 Ihr Gewicht halbiert. Haben Sie sich dabei auch als Mensch verändert?
Mit mehr Gewicht war ich ein deutlich härterer Mensch, auch mir selbst gegenüber. Wenn man so ein hypersensibler, introvertierter, emotionaler Mensch ist wie ich, braucht man eine Mauer. Mein Fett war meine Mauer. Je mehr ich abgenommen habe, desto mehr begann sie zu bröseln.
Was kam hinter der Mauer zum Vorschein?
Ein merkwürdiger Vogel, eine Künstlerin und ganz viel Welt. Auf einmal waren da all diese Emotionen. Heute gehe ich mit meiner Verletzlichkeit offen um und toleriere weniger Bullshit. Das Leben ist verdammt kurz. Ich versuche nicht mehr, es irgendwem recht zu machen. Wir verschwenden ein ganzes Leben damit, Menschen gefallen zu wollen, denen wir in Wahrheit völlig egal sind.
Sie haben mal gesagt: „Männer stehen morgens auf, stellen sich vor den Spiegel und denken: ‚Ich bin der Geilste‘.“ Was denken Sie, wenn Sie in den Spiegel sehen?
Ich bin die Geilste. Spaß, so viel Testosteron habe ich nicht. Aber ich mag mich. Wenn ich nackt vorm Spiegel stehe, denke ich natürlich nicht: Abnehmen sieht wunderschön aus. Denn das tut es nicht. Ich habe Hautüberschuss ohne Ende. Aber ich bin gesünder und glücklicher als früher, und das ist mir wichtiger als die Hautlappen. Ob ich Gewicht verloren habe oder nicht, sehe ich aber nie.
Wie kommt das?
Ich habe eine körperdysmorphe Störung. Das heißt, ich sehe meinen Körper nicht so, wie er aussieht. Obwohl ich so viele Kleidergrößen verloren habe, bekomme ich immer noch Schweißausbrüche, wenn ich ein Drehkreuz sehe. Im Supermarkt denke ich: Bloß nicht im Weg stehen! Dabei ist beides heute kein Problem mehr.
Sie warnen davor, dass man mit weniger Gewicht nicht automatisch glücklicher ist. Sie hatten 170 Kilogramm abgenommen und auch sonst allen Grund, zufrieden zu sein: Sie machen erfolgreich Stand-up-Comedy und sind Bestseller-Autorin. Trotzdem merkten Sie vor zwei Jahren: Sie sind unglücklich. Darüber schreiben Sie in Ihrem neuen Buch. Was war los?
Ich war körperlich und mental ausgebrannt. Damals war ich fast durchgängig auf Tour und habe eine bescheidene Beziehung hinter mich gebracht. Irgendwann merkte ich: Mich macht nichts mehr richtig glücklich. Mein Leben bestand daraus, Terminen hinterherzujagen. Projekte waren nur noch da, um abgearbeitet zu werden. Ich ging auf Bühnen, damit andere Menschen glücklicher werden, aber ich selbst war es nicht. Ich wusste: Ich muss jetzt etwas machen, oder dieser Job bringt mich um.
Nicole Jägers Buch „Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein“ ist ab sofort erhältlich bei Shops wie Amazon oder Thalia. 208 Seiten, 18 Euro.
© Rowohlt Polaris
Obwohl es Ihnen extrem schlecht ging, haben Sie andere auf der Bühne zum Lachen gebracht. Wie geht das?
Das frage ich mich auch. Aber es heißt ja nicht umsonst „Showbusiness“. Vieles ist nur Show. Ich glaube, ich bin lustig, weil ich sehr viel Schmerz empfinde. Lustig zu sein, ist mein Versuch zu heilen. Ich weiß, wie dunkel das Leben sein kann, aber daraus entsteht eben auch Schaffenskraft. Wahrscheinlich sind deshalb so viele Comedians depressiv. Lustig zu sein, ist nicht die Abwesenheit von Schmerz, sondern der Begleiter.
Sie setzten sich schließlich spontan ins Auto und fuhren einfach los. Am Ende Ihres fünfwöchigen Roadtrips wagten Sie etwas für Sie sehr Mutiges: Sie zeigten sich im Bikini am Strand. Mit 40. Zum ersten Mal in Ihrem Leben, schreiben Sie.
Ich hatte immer Angst vor den Reaktionen anderer Menschen. Davor, fast nackt zu sein, schutzlos.
Wie war es?
Großartig. Ich fühlte mich todesmutig. Mir kamen zwei bildschöne Frauen am Strand entgegen – das war ja klar, dachte ich in dem Moment. Und dann riefen ausgerechnet die beiden mir zu: „Guapa!“ Spanisch für „Schöne“, und schön fühlte ich mich in dem Moment auch.
Sie haben mal gesagt: „Essen stellt keine dummen Fragen. Essen versteht.“ Wer versteht Sie jetzt?
Ich mich. Ich habe verstanden, dass ich ein Problem habe. Meine Essstörung ist eine Suchterkrankung. Aber ich habe gelernt, nicht mehr durch Essen zu kompensieren, Essen ist nicht mehr meine Antwort auf alles. Ich traue mich, etwas zu empfinden, Probleme zu haben und damit offen umzugehen. Das hilft sehr.
Was würden Sie jemandem raten, der übergewichtig ist und abnehmen möchte?
Zunächst einmal: Hör auf, dir einzureden, du müsstest abnehmen, um glücklich zu sein. Deine Daseinsberechtigung ist bereits erfüllt. Du darfst aussehen, wie du aussiehst. Du darfst Raum einnehmen. Wenn du dich jetzt aber dafür entscheidest, dass du selbst damit nicht glücklich bist – das ist das Einzige, was zählt –, dann hol dir Hilfe. Keine Diät wird es richten. Diäten machen dick, ruinieren den Stoffwechsel und beheben nicht das eigentliche Problem. Finde heraus, ob das Essen dein Schutzpanzer ist, so, wie es meiner war. Und leg ihn ab. Nimm dem Essen die Macht.