Simone Biles überzeugt nicht nur mit ihrer gewaltigen Sprungkraft, sie ist auch eine Ikone ihrer Zeit. Hommage an eine Frau, die alle Grenzen sprengt. 

Donnerstagabend saß Simone Biles am Rand der Wettkampfbahn auf einem Stuhl und ließ die Beine baumeln wie ein kleines Mädchen. Lächelnd schaute sie nach links und rechts, wäre da nicht der blaue Glitzeranzug voller Sternchen und Strass, hätte man denken können, sie warte auf den Bus, so entspannt wirkte sie. Am Stufenbarren, ihrem schwächsten Gerät, hatte sie zuvor kurz gepatzt. Am Schwebebalken jedoch alles wieder herausgeholt.

Noch eine Übung trennte sie nun vom Sieg im Mehrkampf-Einzelfinale. Bodenturnen. Aber was heißt das bei ihr schon, „Boden“. Simone Biles schnellte los, katapultierte sich in die Höhe und präsentierte eine Flugschau, darunter ein Doppelsalto gehockt mit dreifacher Schraube, 142 Zentimeter geballte Sprungkraft. „Oh là là, oh là là“, murmelte der französische Kollege auf der Pressetribüne nur atemlos. Besser konnte man es auch kaum zusammenfassen. Niemand brauchte die Punktezahl, sofort war klar: Biles hatte die Goldmedaille. 

Herzchen und Küsse fürs Publikum

Ihr Sieg war, wieder einmal, historisch. Ihr zweites Gold in Paris nach dem Mannschaftsturnen, ihr sechstes insgesamt. Dazu dreißig Weltmeisterschaftsmedaillen – keine andere Turnerin hat je so viele Auszeichnungen gesammelt. Strahlend hüpfte Simone Biles mit der US-Flagge durch die Bercy-Arena, Luftküsschen flogen ins Publikum, Herz-Gesten. Ihr Mann Jonathan Owens herzte von der Tribüne aus zurück. Zu den vielen schönen Momenten an jenem Abend gehörte auch das bewundernde Lächeln von Rebeca Andrade. Die Brasilianerin hatte zwischenzeitlich kurz vor Biles gelegen und am Ende Silber gewonnen. Sie freute sich einfach nur mit.  

Das Comeback in Paris ist für sie mehr als ein Wettkampf
© Getty

Simone Biles muss der Welt nichts mehr beweisen. Sie hat die Grenzen des Sports verschoben und längst Geschichte geschrieben: Zu Beginn ihrer Karriere war sie oft die beste schwarze Frau. Dann die beste Frau. Irgendwann sprang sie Kombinationen, die außer ihr noch kein Mensch gezeigt hatte – fünf Turnelemente sind nach ihr benannt. Doch Paris 2024 ist für die 27-Jährige mehr als ein Wettbewerb. Jeder Triumph ist auch ein Sieg über das Unrecht, das ihr und vielen anderen angetan wurde. Ein dickes „Ätsch“ an das System. „Achtet darauf, dass es euch gut geht“, ist heute Simone Biles Botschaft an jüngere Turnerinnen. „Achtet darauf, Spaß zu haben.“ 

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Simone Biles liebt ihren Sport – aber sie hasste ihn auch

Simone Biles war 16, als sie ihre erste Weltmeisterschaft gewann. Bei den olympischen Spielen 2016 in Rio holte sie vier Mal Gold und ein Mal Bronze. Beim Turnen scheint sie die Gesetze der Schwerkraft auszuhebeln, ihre unglaubliche Sprungkraft erlaubt es ihr, den Schwierigkeitsgrad ihrer Übungen zu halsbrecherischen Manövern zu steigern. Und sie hat auch noch Freude dabei. Sponsoren umwerben die Rekordhalterin, deren Leben so malerisch den uralten amerikanischen Traum zu illustrieren scheint: Das schwarze Mädchen aus armen Verhältnissen, das zum Star wurde.  

Simone Biles liebt ihren Sport. Aber sie hasste ihn auch. 

Im Alter von zwölf Jahren hatte sie begonnen, auf der Karolyi Ranch in Texas zu trainieren. Die Kaderschmiede der US-Turnerinnen, malerisch im Wald gelegen, produzierte Leistung auf höchstem Niveau. Sie war jedoch auch das Revier des pädokriminellen Serienstraftäters Larry Nassar. Vier Mal hatte er als Amtsarzt unter anderem das Olympia-Team betreut und in dieser Zeit mehr als 250 Frauen und Mädchen missbraucht. Anschuldigungen und Aussagen gegen ihn hatte es früh gegeben – aber den Opfern wurde nie geglaubt. Nicht einmal das FBI war den Vorfällen nachgegangen. Erst nach den olympischen Spielen in Rio drangen die Verbrechen vehement in die Öffentlichkeit, weil immer mehr Turnerinnen sich zusammentaten. 

Simone Biles hatte lange gebraucht. Am 15. Januar 2018 berichtete sie auf „X“ von ihrem Missbrauch, Hashtag #metoo. Sie habe geschwiegen, weil sie sich gefragt habe, ob es ihr Fehler gewesen sei. Ihre Naivität. Sie schrieb aber auch: „Wir müssen herausfinden, warum dies so lange und so vielen von uns passieren konnte. Wir müssen sicherstellen, dass so etwas nie wieder geschieht.“    

Nach dem Missbrauchsskandal lag alles am Boden

Der Skandal war eine Katastrophe für den amerikanischen Turnverband. Alles lag am Boden, nur Simone Biles nicht. Unerbittlich kämpfte sie weiter. Verdrängung, vermutete sie später. Bei der Frauen-WM in Doha holte sie 2018 mit dem Team Gold. Im Jahr darauf erfand sie ihren „Tripple-Double“, WM-Sieg in Stuttgart. Bei den olympischen Spielen in Tokio 2021 kam dann der Einbruch. Sie, von der die Zukunft des gesamten Verbandes abhing, litt plötzlich unter akuten Angstzuständen. Eine psychische Blockade, bei der ihr Kopf nicht mehr wusste, wo ihr Körper landen sollte – für eine Turnerin kann das tödlich sein. Simone Biles beendete den Wettkampf aus mentalen Gründen. Viele prophezeiten, dass es auch das Ende ihrer Karriere sein würde.  

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Ein Mann wäre in so einem Fall heutzutage vermutlich für seine „mutige Entscheidung“ gelobt worden. Simone Biles hingegen wurde teilweise öffentlich verspottet, unter anderem von dem republikanischen Senator J.D. Vance. Was allerdings ziemlich egal war. Denn Taylor Swift, Amerikas derzeit wohl berühmteste Frau, gehörte zu jenen, die sich sofort solidarisch zeigten: Die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen, könne eine schwere Last sein, so Swift. „Es kann aber auch die Chance sein, alles zu verändern.“  

Simon Biles, die Kriegerin

Im Leben der Sportlerin begann nach dem Wettkampfabbruch ein neues Kapitel: Simone Biles, die Kriegerin. 

Sie fing an, aufzuräumen. Nicht nur in den Therapiestunden, die sie eh schon machte, sondern auch nach außen. Im US-Senat prangerte sie gemeinsam mit ehemaligen Turnerinnen das FBI an. Den Turnverband. Das amerikanische Olympische Komitee. Keine dieser Institutionen habe die Aussagen der Athletinnen ernstgenommen und sich daran mitschuldig gemacht, dass jahrelang immer weitere Frauen missbraucht worden waren. Zunehmend laut kritisiert Biles inzwischen auch den oft menschenfeindlichen Drill hinter dem Leistungsturnen, der junge Mädchen zu gefügigen Geschöpfen mache und sie mit wenig Essen ins Bett schicke. So dürfe es nicht sein. Sie äußert sich zu Rassismus, den sie erlebt. Zu der Benachteiligung von Frauen im Profi-Sport. Und sie heiratete.  

Vergangenes Jahr hat Simone Biles ihr Training wieder aufgenommen, trotz der Schmerzen in den Knochen, trotz der Ängste, von denen sie sagt, sie seien immer noch da. Und trotz ihres Alters: Mit 27 gehört sie in dem extrem harten Sport bereits zu den Ältesten. Aber sie musste wohl weitermachen, vielleicht, weil sie wild entschlossen ist, ihre Geschichte nicht traurig enden zu lassen. Auf ihrem Schlüsselbein trägt Biles ein zartes Tattoo: „And still I rise“, steht dort  – und doch erhebe ich mich – nach einem Gedicht von Maya Angelou. Man darf verletzlich sein, man kann heilen und wieder aufstehen. Wie viele Medaillen Simone Biles in Paris gewinnt, dürfte ihr fast egal sein. Denn sie ist vor allem: nicht besiegt. Auch das ist heute ihre Botschaft an die Welt.