Lene G. hat ein schweres Schicksal, sie ist noch jung und weiß, dass sie bald sterben wird. Sie wird eine Tochter und einen Ehemann hinterlassen. Nun fragt sie sich, wie sie mit ihren eigenen und den Gefühlen ihres Mannes umgehen soll. Julia Peirano weiß einen Ausweg.

Liebe Frau Peirano,

ich bin 33 und habe eine 9-jährige Tochter mit einem früheren Mann. Seit 2018 bin ich mit meinem Mann Justus zusammen und wir wollten langsam probieren, noch zusammen Kinder zu bekommen. Es klappte über ein Jahr nicht und ich habe mich dann medizinisch durchchecken lassen.

Dabei wurde 2021 Lungenkrebs festgestellt. Ein Schock! Ich kannte niemanden, der Krebs hatte, und dann ich! Ich war wochenlang wie taub und konnte es nicht glauben, dass meine Zukunft plötzlich ruiniert war. Am Anfang sah es noch so aus, als könnte es geheilt werden. Ich machte eine Chemotherapie und Bestrahlung, die ich einigermaßen gut vertrug und ich reduzierte meine Arbeit und nahm mir mehr Zeit für Dinge, die ich wirklich machen wollte. 

Justus war unglaublich. Er nahm sich immer Zeit, um mich zum Arzt zu begleiten, hat mir immer zugehört und sich selbst zurückgestellt. Er kümmerte sich noch mehr um meine Tochter und nahm mir im Haushalt alles ab, was mich belasten könnte. Wir reisten lange durch Neuseeland und schafften es, den Krebs mal eine Weile ruhen zu lassen und wieder ganz bewusst zu leben und zu genießen.

Peirano April2 1955

Dann sah es eine Weile medizinisch ganz gut aus. Ich war austherapiert, hatte keine Beschwerden und musste regelmäßig zur Nachsorge. Zwei Jahre lang ging es gut und wir schöpften Hoffnung. Ich machte eine Klangtherapie-Ausbildung, fand neue Freunde und hatte mit meiner Familie eine noch innigere Zeit als vorher, weil wir gespürt hatten, dass das Leben nicht selbstverständlich ist, sondern ein Geschenk. Justus und ich versuchten wieder, ein Kind zu bekommen.

Doch Ende 2023 drehte sich alles. Der Krebs hatte gestreut und nach einigen Untersuchungen stand fest, dass ich mich darauf einstellen sollte, noch maximal fünf Jahre zu leben. Für uns brach eine Welt zusammen. Erst konnten wir es nicht glauben, aber als es sich dann als wahr herausstellte, war es, als hätte man uns den Stecker gezogen.

Das Problem ist, dass Justus sehr gut damit umgehen konnte, als noch Hoffnung auf Heilung bestand. Er ist ein Kämpfertyp und hat alles dafür getan, den Krebs zu besiegen. Aber jetzt, wo klar ist, dass ich sterben werde, weiß er nicht, was er machen sollen. Er hat manchmal schon zu mir gesagt, ob wir nicht einfach mal den Krebs vergessen können und ganz normale Zeit miteinander verbringen wollen. Das hat mich einerseits sehr verletzt, denn ich kann nicht einfach mal eine Pause vom Krebs machen. Aber andererseits habe ich beim Yoga auch viel über positive Gedanken gelernt und bin Justus dankbar dafür, wenn er mal eine Pause vom Krebs machen und das Leben mit mir genießen will. Ich versuche mein Bestes, um nicht ständig daran zu denken. Erstaunlicherweise ist das Leben noch intensiver geworden, seit ich weiß, dass ich nicht mehr viel Zeit habe.

Peirano April    20.30

Dennoch habe ich das Gefühl, dass Justus irgendwie stehengeblieben ist in der Zeit, als es noch Hoffnung auf Heilung gab. Er sagt immer wieder, dass die Ärzte sich vielleicht geirrt haben und dass es ständig neue Behandlungsmethoden gibt. Oder dass ich so gesund lebe und es immer wieder Patienten gibt, die doch überleben.

Ich kann ihn verstehen, aber ich fühle mich alleine gelassen mit dem Sterben. Und noch schlimmer: Ich fühle mich auch schuldig, weil er sich unser Leben so anders vorgestellt hat und es an mir liegt, dass er jetzt nicht wie unsere Freunde eine Familie gründen und normal leben kann. Ich habe mir das auch nicht ausgesucht und es ist verdammt hart, damit zurechtzukommen. Ich habe seit kurzem therapeutische Unterstützung, weiß aber nicht, ob sie die Richtige ist für mich.

Ich würde mir so sehr wünschen, dass Justus und ich gemeinsam meinem Tod ins Auge sehen könnten, und auch offen mit meiner Tochter darüber sprechen können.

Haben Sie einen Rat für mich?

Viele Grüße
Lene G.

Bio Julia Peirano

Liebe Lene G.,

Ihre Geschichte ist sehr berührend. Weil es so traurig ist, dass eine junge Frau so früh sterben muss, weil Sie offensichtlich sehr lieben und sehr geliebt werden und Abschied nehmen müssen, weil Sie einen ganz anderen Plan für Ihr Leben hatten und weil Sie letztlich jetzt mit dem Sterben recht allein dastehen.

Ich habe in meiner Praxis einige Geschichten gehört, in denen geliebte Angehörige gestorben waren, und einer der quälendsten Aspekte war, wenn man sich nicht richtig verabschieden konnte. 

Ich hatte eine Patientin, deren Schwester lange krank war, aber dann doch plötzlich in einem Moment gestorben ist, in dem meine Patientin einfach mal mit einem Freund essen war. Sie hat sehr Jahrzehnte darunter gelitten, dass sie sich nicht verabschieden konnte, bis wir das dann in Hypnose nachgeholt haben. Sie sah sich, ihre Eltern und ihre Schwester in einem ruhigen Krankenzimmer und die Schwester sagte: „Ich muss euch verlassen.“ Alle wurden sehr traurig und weinten eine Weile lang, dann hielten sie sich lange in den Armen, bis die Schwester starb. Diese Vorstellung in Hypnose hat meiner Patientin enorm geholfen, ihren Frieden mit dem Abschied zu finden, der nie stattgefunden hat.

Peirano März 4 2010

Eine andere Patientin, Mitte 30, hatte zehn Jahre zuvor ihre Mutter an Krebs verloren. Ihr Vater und ihre Mutter hatten die Erkrankung jahrelang bagatellisiert und so getan, als wäre es eine kleine, ungefährliche Routinebehandlung und alles würde wieder ins Lot kommen. Die Mutter hatte noch einige Tage vor ihrem Tod die Wohnung der Patientin renoviert und die Zähne zusammengebissen. Auch nach dem Tod der Mutter haben der Vater und die Brüder nie über sie gesprochen, sondern jeder hat einsam getrauert. Bis wir in der Therapie angeregt haben, über die Mutter zu sprechen. Nach langem Zögern fasste meine Patientin sich ein Herz und sprach über ihre Mutter. Und da öffneten sich die Schleusen auch beim Vater und den Brüdern, Gefühle kamen ans Licht, die durch Alkohol betäubt worden waren, und die Familie fand nach zehn innerlich distanzierten Jahren wieder emotional zueinander. 

Eine Bekannte von mir war in einer ähnlichen Situation wie Sie: Sie wusste, dass sie sterben würde, Sie hatte einen Mann und einen Teenager. Aber Ihr Mann wollte Ihren Tod nicht wahrhaben. Und so starb sie innerlich sehr alleine, weil alle ihr sagten, dass es bei ihr schon gut ausgehen werden und sie nicht die Hoffnung aufgeben solle. Ihr Mann hat ihren Tod jahrelang nicht wirklich verkraftet und fing an zu trinken.

Peirano März3 21.04

Die Essenz von diesen Geschichten ist aus meiner Sicht, dass man über das Sterben und die starken Gefühle, die das in jedem Einzelnen auslöst, unbedingt sprechen sollte. Man sollte gemeinsam durch die Trauer, die Wut und die Verzweiflung gehen, auch wenn jeder diese Gefühle in unterschiedlichen Phasen erlebt. Man sollte gemeinsam einen Weg suchen, um die verbleibende Zeit intensiv zu gestalten, ohne sich zu überfordern. Und vielleicht noch einige Dinge abschließen, die man immer machen wollte. Ihre Neuseeland-Reise ist ein großartiges Beispiel dafür, jetzt zu leben und seine Wünsche nicht aufzuschieben.

Es ist auch hilfreich, wenn man über die Zeit nach dem Tod sprechen kann. Was wünschen Sie sich für Ihren Mann und Ihre Tochter? Würden Sie Ihrem Mann gönnen, dass er eine neue Frau findet? Was würden Sie Ihrer Tochter gerne mit auf den Weg geben? Vielleicht könnten Sie Ihr auch noch andere Dinge angehen, z.B. ein Instrument kaufen, das sie spielen möchte, einen Baum pflanzen, den sie pflegen kann, ihr Rezepte aufschreiben, die Sie immer für sie gekocht haben, Fotoalben erstellen oder Ihre gemeinsame Geschichte aufschreiben?

Je mehr ausgesprochen ist, desto einfacher ist es, zu gehen. Und desto einfacher ist es, jemanden gehen zu lassen. Obwohl es natürlich überhaupt nicht einfach ist, in Ihrer Situation zu sterben, so mitten im Leben und mit einer jungen Tochter und vielen unerledigten Plänen!

Peirano März 1 20.13

Sie könnten auch darüber nachdenken, gemeinsam Ihre Trauerfeier zu planen, so wie man auch gemeinsam andere Feste plant. Meine Oma hatte sich zum Beispiel ganz praktisch mit ihrem Tod auseinandergesetzt: Sie wollte einen Eichensarg, hatte sich ein schönes Grab ausgesucht und hatte sich noch mit ihrer Schwester ausgesprochen, mit der es über Jahre Funkstille gegeben hatte. Sie hatte einige ihrer Bücher und Pflanzen in der Familie verteilt und so konnte sie friedlich und ruhig sterben. Natürlich ist das ganz anders, wenn man nach einem langen Leben in hohem Alter stirbt, aber die Idee ist die gleiche. Ihr Mann und Ihre Tochter würden sich an dem schweren Tag stärker mit Ihnen verbunden fühlen, wenn Sie gemeinsam an die Zeit gedacht haben, sie geplant haben und intensiv darüber gesprochen haben. Eines der schmerzhaftesten Dinge am Sterben ist, sich einsam zu fühlen und die innere Verbindung zu einem geliebten Menschen nicht mehr zu spüren.

Mir ist ganz klar, dass das Sterben ein schwieriger Prozess mit vielen Höhen und Tiefen ist und bleiben wird. Aber vielleicht fühlt es sich doch anders an und hinterlässt andere Spuren, wenn Sie es gemeinsam bewältigen.

Hier ist noch ein Buchtipp: „Einfühlsame Gespräche am Lebensende: Eine Hilfe in sprachlosen Momenten. Ein Ratgeber für Angehörige und Sterbende.“ Von Anke Nolte und H. Christof Müller-Busch.

Herzliche Grüße
Julia Peirano