Die Bayer-Metropole ist nicht attraktiv, aber erfolgreich im Fußball. Ansonsten kämpft sie vor allem mit sich und ihrer außergewöhnlichen Geschichte. Ein Lagebericht

Man sagt, die Stadt Leverkusen habe kein Gesicht. Jetzt fehlt ihr auch noch ein Balkon. So ein hübscher wie am Münchener Rathaus, wo sich die Bayern elf Jahre hintereinander als Deutscher Fußballmeister vom Volk feiern ließen. Für Bayer Leverkusen, den neuen Meister, gibt es keine Veranda. Die Kommune wird aus einem balkonlosen Ufo gesteuert, das auf einem Einkaufszentrum gelandet ist. So sieht das Rathaus jedenfalls aus. Macht alles nichts, wiegelt Oberbürgermeister Uwe Richrath ab: „Der Balkon steckt im Herzen eines jeden Leverkuseners.“ 

Der Stadtoberste ist gerade in Hochstimmung. Am Sonntag schlug Bayer Leverkusen Werder Bremen souverän mit 5:0. Das brachte die erste Meisterschaft in der Vereinsgeschichte. Die Werkself kann sogar noch die Europa-League und den DFB-Pokal gewinnen. Was für ein Jahr! Deutschland schaut auf Leverkusen! Auch wenn viele erst mal googeln müssen, wo dieser Ort überhaupt liegt.

Oberbürgermeister Uwe Richrath vor dem Rathaus: „Wir sind nicht großspurig.“
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So viel Interesse ist für die 163.000 Einwohner neu. Denn es gibt bei ihnen in der Regel nicht allzu viel zu erleben. Platz 44 unter den deutschen Wirtschaftsstandorten. Der Alltag verläuft in der Regel überraschungsfrei. Sehenswürdigkeiten? Mmh. Das Reiseportal Tripadvisor empfiehlt Touristen – so es welche gibt – als Hauptattraktion die BayArena, das 66 Jahre alte, mehrfach aufgepeppte Fußballstadion. Dann folgen bald Ausflugstipps ins benachbarte Köln mit seiner über 2000-jährigen Geschichte.

Leverkusen, das Retortenbaby

Zugegeben: Leverkusen hat es nicht immer leicht gehabt. Die Stadt kam als Retortenbaby zur Welt und wurde von einer geldhungrigen Alleinerziehenden gesäugt, der Bayer AG. Die Mutter stammt nicht einmal von hier, die Wiege des Chemie- und Pharmakonzerns steht in Barmen, heute ein Stadtteil Wuppertals. Ende des 19. Jahrhunderts wurde es den Bayer-Managern dort zu eng, sie entschlossen sich, rund 30 Kilometer weiter südwestlich ein neues Werk hochzuziehen, etwa da, wo die Wupper in den Rhein mündet.

Hier döste weiland das Dörfchen Wiesdorf mit seinen 2000 Einwohnern vor sich hin. Attraktiver für Bayer war die nahe Farbenfabrik des Apothekers Carl Leverkus, der als einziger Ultramarin herstellen konnte. Er nannte seine Arbeitersiedlung „Leverkusen“. Bayer kaufte ihm den ganzen Laden ab. Den Mitarbeitern an der Wupper machte das Angst. Sie skandierten: „Kann man einen nicht verknusen, schickt man ihn nach Leverkusen.“ 

Fußgängerzone in Leverkusen: Bonjour Tristesse!
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In den Folgejahren schoss Wiesdorf ins Kraut. 1930 fusionierte es mit den Nachbardörfern Schlebusch, Steinbüchel und Rheindorf zur Stadt Leverkusen; später kamen weitere Dörfer hinzu. Dass kein Stadtplaner das Wachstum steuerte, sieht man ihr bis heute an. Hier und da schmucke Fachwerk- und Jugendstilhäuser, denen Wohnkasernen und grässliche Zweckbauten die Luft nehmen. Inmitten der City die wuchtige Rathausgalerie, mehr als 120 Geschäfte von C&A bis Zero. Sie ist das Ergebnis des verzweifelten Versuchs, aus Unmengen Beton und Glas ein Stadtzentrum aus dem Boden zu stampfen. 

Welche Himmelsrichtung man auch immer nimmt: Man passiert Straßen mit unzähligen Auf- und Abfahrten, Kreuzungen und Kreisverkehren. Von West nach Ost durchschneidet die A1 die Stadt, von Nord nach Süd die A3 und die A59. Das bedeutet: Lärm und Dreck, 24/7. 

Das ist auch nicht anders im Ortsteil Manfort. Direkt neben der A3 liegt das Vereinsheim des Fanclubs „Lev-Szene ’86“. Vor dem Heim werden Kölsch-Buden aufgebaut für die Meisterfeier. Innen eine lange Theke, viel Schwarz und Rot sowie unzählige, signierte Trikots von Bayer-Größen der letzten Jahrzehnte. Marco Giese, 46, kann zu jedem eine Geschichte erzählen.

Abteilung Bierbuden-Aufbau vom Fanclub „Lev-Szene’86“: Marco Giese (r.) bereitet mit Dominik Haupt, Roland Cahn, Stefan Hülstrunk und Micha Müller (v.l.) die Meisterfeier vor.
© Rolf-Herbert Peters / stern

Er sagt, die Stadt sei elektrisiert: „Trainer Xabi Alonso hat die Mentalität verändert.“ Mit ihm sei es wieder lauter im Stadion geworden, „wer früher sitzenblieb, steht heute auf.“ Wirklich? Es gibt diese Witze über die Werkself, etwa den hier: „Was ist der Unterschied zwischen Bayer Leverkusen und einer Straßenbahn? Die Straßenbahn hat mehr Anhänger!“ Über so was lacht Giese nicht. Warum die BayArena selbst in der laufenden Jubelsaison bei sechs von 14 Heimspielen nicht ausverkauft war? Giese zuckt mit den Schultern.

„Wir spielen gerade den besten Fußball Europas“

Er sagt: „Es gibt jetzt immer mehr Fans! Wir spielen gerade den besten Fußball Europas.“ Ob die Siegesserie der gesamten Leverkusener Gesellschaft neues Selbstbewusstsein verleihen kann, will der Betriebswirt, der gerade zum Fahrlehrer umschult, nicht bestätigen. „Mal sehen, wie es wird, wenn wir nicht mehr so erfolgreich sind.“ 

Meister Bundesliga

Für den Bayer-Konzern setzt er als Vereinsmann warme Worte ab, „der ist gut geführt!“ Fast 48 Milliarden Euro setzt die AG um – 50-Mal mehr als die Stadt Leverkusen im Jahr einnimmt. Deswegen schwimmt die Werkself, die stolz das Logo präsentiert, aber nicht im Geld, zuletzt bekam sie 25 Millionen Euro im Jahr. Volkswagen zahlt seinen Wolfsburgern bis zu 70 Millionen, nur für Trikotwerbung.

Auch in der Stadt sind die Bürgersteige nicht etwa vergoldet, im Gegenteil. Viele Wege und Straßen sind marode, Geschäfte stehen leer, Häuser sehnen sich nach einem Anstrich. Vor gut 30 Jahren zahlte Bayer noch umgerechnet rund 110 Millionen Euro Gewerbesteuer. Zwanzig Jahre später waren es nur noch 20 Millionen. Das Management hat seine Abgaben immer stärker „global minimiert“, wie es heißt. 

Werbung für den 20. April: Dann will die Stadt den Spielführer, Torwart Lukas Hradecky, und die ganze Mannschaft samt Trainer hochleben lassen.
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So lasten heute auf jedem Einwohner 5526 Euro Stadtschulden, das ist weit über dem Landesdurchschnitt. 2019 zog die klamme Stadtspitze die Reißleine. Sie senkte den Gewerbesteuersatz drastisch auf zierliche 250 Prozent, um überhaupt noch Firmen halten und neue Investoren locken zu können. Das funktioniert halbwegs. Dennoch werden im Haushaltsjahr 2024 wieder rote Zahlen erwartet.

Trotzdem ist noch immer das weithin sichtbarste Konstrukt der Stadt das 51 Meter hohe „Bayer-Kreuz“. 1710 Lampen illuminieren sieben Meter hohe „Bayer“-Lettern. Man kann sie sogar im Bergischen Land lesen. Bayer sagt stolz, es sei „das größte Warenzeichen der Welt“. Viele Einwohner, auch Giese, teilen diesen Stolz in Wahrheit nicht mehr, seitdem der Aspirin-Konzern den Glyphosat-Hersteller Monsanto gekauft hat, der Milliarden an Krebsgeschädigte zahlen muss. Außerdem macht Bayer gerade eher als Loser-Schlagzeilen: Milliardenverluste, Stellenabbau. 

Vor diesem Hintergrund tun der Stadt die vielen Good News durch den Fußball extrem gut. Wenn es Leverkusen in den vergangenen Jahren in die „Tagesschau“ schaffte, dann wegen Dramen. Etwa 2021, als im „Chempark“ drei Chemietanks des Entsorgers Currenta explodierten und sieben Todesopfer forderten. Oder 2014, als die marode Leverkusener Rheinbrücke der A1 über Jahre für Lkw gesperrt werden musste. Kürzlich hat NRW-Landesvater Hendrik Wüst, CDU, das erste neu gebaute Teilstück der Brücke freigegeben. SPD-Oberbürgermeister Richrath war nicht eingeladen. Ausgerechnet. Er ist stinksauer.

Dauerbaustelle Leverkusener Brücke: Erst 2027 wird sie wohl fertiggestellt.
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Dafür durfte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, ebenfalls SPD, mit am schwarz-rot-goldenen Absperrband schnipseln. Der Kifferversteher hat seinen Wahlkreis in der Stadt der Drogen (wie man Medikamente mal nannte, siehe „Drogerie“). Man kann ihn zu den schillernden Promis der Region zählen, seine Kompetenz in Sachen Rasensport hat er als Schöpfer der Corona-Geisterspiele bewiesen. Ab und zu taucht er als Experte für alles Mögliche in der Lokalpresse auf.

Xabi Alonso repräsentiere die Stadt prima

Bürgermeister Richrath beteuert, er halte gar nichts von Aufgeblasenheit. Ein „Mia-san-mia“-Gehabe wie bei Bayern passe nicht zur Stadt, „wir sind nicht so großspurig!“ Sicher, er lasse vor jedem Heimspiel die Bayer-Flagge vor kommunalen Gebäuden hissen und sei auch selbst möglichst immer im Stadion präsent. Aber man schaue lieber auf Trainer Alonso, den Mann der leisen Töne, der repräsentiere die Stadt prima. 

Manche kleben am Verein: Fan-Kunstwerk auf dem Weg zur BayArena.
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Leise Töne? Das war mal anders. Es gab hier sehr viele laute Charaktere, vor allem, als es im Fußball noch nicht rund lief. Legendär: Ex-Fußballgeschäftsführer Reiner „Calli“ Calmund, Höchstgewicht 185 Kilogramm, der sich atemlos durch die Talkshows rheinelte und seine Ausführungen über das „Büsinöss“ gern mit einem „däffenitief“ unterstrich. Im Fanclubhaus hängt sein Konterfei fett über der Theke. Er begann seine Karriere 1976 als Stadionsprecher und gilt als wahrer Erfinder des Clubs, der offiziell 1904 als „Turn- und Spielverein der Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co.“ gegründet wurde. Denn sein Gewicht und seine Sprüche machten die Elf erst seh- und hörbar.

Und dann lieben sie hier Christoph Daum, den irrwitzigen Fußballlehrer aus Zwickau, der Leverkusen drei Vizemeisterschaften und den Spottnamen „Vizekusen“ bescherte („Man muss nicht immer die absolute Mehrheit hinter sich haben, manchmal reichen auch 51 Prozent.“)  Der spätbekennende Koks-Konsument, dem ironisch nachgesagt wurde, er ziehe sogar die Seitenlinie der BayArena durch die Nase, wurde 2000 gefeuert. Da hatte Bayer die Nase voll von ihm. Mit Rudi Völler, Spieler, Interimstrainer und Geschäftsführer Sport, wurden die Bayer-Fans dagegen nie so richtig warm, sagt Fanclub-Manager Giese.

Fahne im Fenster in Wiesdorf: Insgesamt ist wenig Euphorie zu spüren.
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Es geht zurück, raus aus Leverkusen. Hier und da hängen Fußballfahnen an den Fenstern der Arbeitersiedlungen. Ansonsten: Stau. Vor der A1. Auf der A1. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass nicht alles schlecht ist in der Bayer-Metropole. Däffenitief. Im Herbst etwa beginnen die 45. Leverkusener Jazztage. Da reisen Musikgrößen aus aller Welt in die Stadt ohne Gesicht. Häufig dabei: Saxophon-Ikone Candy Dulfer. Sie spielt leidenschaftlich das Funk-Stück „Pick up the pieces“, was bedeutet: „Sammele die Scherben auf!“ 

Das klingt wie ein Rat an die Stadtverwaltung, es dem Fußball endlich gleichzutun.