Percival Everett erzählt den Klassiker „Huckleberry Finn“ neu: aus der Perspektive von James, einem Sklaven. Was für Huck Finn Abenteuer war, wird nun aus James‘ Sicht ein täglicher Überlebenskampf.

Die amerikanische Literatur begann im Jahr 1884 mit diesem Buch: Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Selbst Prahlhans Ernest Hemingway versank noch Jahrzehnte später in kleinlauter Demut, erklärte, es sei „das beste Buch, das wir hatten. Davor gab es nichts. Seitdem gab es nichts so Gutes mehr.“

Der Klassiker gilt bis heute in den Vereinigten Staaten als stilprägend wie wohl kein anderer, und das Buch war schon von Anfang an umkämpft. Im 19. Jahrhundert war frömmelnden Langweilern „Huckleberry Finn“ zu grob, seit den 1950er-Jahren wird es immer wieder von Schulen verbannt, Kritiker ziehen als Beleg ihres Rassismusvorwurfs das N-Wort heran, das Mark Twain im Buch verstörende 219 Mal gebrauchte.

Noch heute taugt das Buch für heftige Kontroversen; und mitten in diese Deutungskämpfe hat sich nun Percival Everett mit seinem grandiosen Roman „James“ gestürzt. Everett hat dabei Twains Roman so gekonnt und gewieft umgeschrieben, dass man „Huckleberry Finn“ fortan nicht mehr ohne „James“ lesen möchte.

James ist ein widerwilliger und widersprüchlicher Kämpfer

Everett wirft die Perspektive um, erzählt die Geschichte in nüchterner Ichform aus der Sicht von Jim, der eigentlich James heißt, dem Schwarzen Sklaven des Romans. Wie im Original flüchtet der 27-jährige James aus dem Ort Hannibal auf eine Insel auf dem Mississippi, nachdem er erfahren hat, dass er verkauft und von seiner Frau und Tochter getrennt werden soll. Dort trifft er bald auf Huck, der seinen eigenen Tod vorgetäuscht hat, um seinem saufenden Vater, der ihn misshandelt, zu entkommen. Das besiegelt James‘ Schicksal, wie dieser sich ausrechnet: „Im Kopf zählte ich eins und eins zusammen. Huck war vermeintlich ermordet worden, und ich war gerade weggelaufen. Wem würden sie dieses abscheuliche Verbrechen wohl in die Schuhe schieben?“

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Bei Twain warteten hinter jeder Biegung des großen, alten Mississippi neue Abenteuer auf die beiden, als sie auf ihrem Floß hinunterschipperten. Doch was für Huck Finn Abenteuer war, wird nun aus James‘ Sicht ein täglicher Freiheits- und Überlebenskampf. Everett orientiert sich an der Handlung der Vorlage, man erkennt viele Szenen und Personen wieder. Doch er fährt nicht immer auf Twains Floß mit, er legt nicht an allen Stellen an, zeigt dafür an anderen Orten genug Muße, um ausgehend von der Vorlage tiefere Deutungsschichten auszugraben.

Während Twain die damalige amerikanische Gesellschaft durch den naiven Blick des jungen Huck auf die Schippe nahm, seziert Everett den weißen Rassismus mit dem scharfen Blick einer schwarzen Figur, die ausgepeitscht wird und Frau und Kind vor Folter und Vergewaltigung schützen muss. James ist ein Kämpfer, allerdings ein menschlicher, widerwilliger und widersprüchlicher. Ein gebildeter Held, dem klar ist, dass die Bibel ein Werkzeug seiner Unterdrücker ist. In seinen Träumen führt er ausgedehnte innere Dialoge mit Rousseau, John Locke und Voltaire über Freiheit und Sklaverei; ihre Werke hat er heimlich in der Bibliothek seines Sklavenhalters studiert.

Percival Everett, 67, veröffentlichte seinen ersten Roman 1983. Er ist Professor für Englisch an der USC in Los Angeles
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Percival Everett ist bekannt für seinen feinen Humor

Percival Everett, Englischprofessor in Kalifornien, hat mehr als 30 Bücher verfasst. Seine Parodie „Ausradiert“ wurde gerade unter dem Titel „American Fiction“ fürs Kino adaptiert und mit einem Oscar ausgezeichnet. Alle seine Werke eint, dass er in ihnen große philosophische Fragen mit feinem Humor beantwortet. Everett ist dabei, wie Twain, ein herausragender Humorist.

Am Anfang zeigt er die Absurdität des Rassismus in einer Sprachstunde, die James seiner Tochter gibt. Er schärft ihr ein: „Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen.“ Wenn die Weißen sich nämlich nicht überlegen fühlten, habe man als Sklave zu leiden. Später bringt er seiner Tochter bei, wie sie sich bei der weißen Herrin für ein Stück ungenießbares Cornbread bedanken solle: „Aber was sagst du ihr morgen, wenn sie dich fragt, ob es dir geschmeckt hat?“ Lizzie räusperte sich. „Miss Watson, dassja ma’n Cornbread, wie ich’s noch nie in meim Leben gegessn hab.“ – „Probier’s mit ‚wo ich'“, sagte ich. – „Das wäre die korrekte falsche Grammatik.“

Percival Everett: „James“, Ü.: Nikolaus Stingl, Hanser, 336 Seiten, 26 Euro
© Hansa Verlag

Neben James steht so auch dessen doppelzüngige Sprache im Mittelpunkt des Romans. Everett bedient sich einer Ausprägung des Südstaatenenglisch, das im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde. Übersetzer Nikolaus Stingl gelingt es hervorragend, diesen Slang in einen artifiziellen, aber glaubwürdigen Dialekt ins Deutsche zu übertragen, der nie Gefahr läuft, ein primitiv-einfältiges Idiom einer vermeintlichen Sklavensprache zu produzieren.

Am Ende aber, so zeigt Everett in seinem sich zum furiosen Thriller wandelnden Buch, hilft den Sklaven auch keine falsche Grammatik aus dem falschen Leben. Wenn Hemingway noch lebte, müsste er dieses Buch genauso preisen, wie er es bei Mark Twains Vorlage getan hat.