Kolumnist Nicol Ljubic macht Karriere. Eben noch war er einfaches Parteimitglied, jetzt hat er plötzlich vier Ämter. Schafft er es bis an die Spitze der SPD?
Es gibt eine Tour, die lässt sich in keinem Reisebüro buchen, nicht mal beim Reiseservice der SPD. Da kann man zwar Ausflüge buchen zu den Gründungsstätten deutscher Sozialdemokratie oder eine Bahnfahrt durch die Schweizer Alpenwelt, man kann die Wikinger-Runde buchen, eine große SPD-Sommer-Kreuzfahrt entlang der Küsten Dänemarks, Norwegens und Schottlands oder eine SOZIRIDER-Motorradreise durch vier Länder – aber nicht die Tour von der alle sprechen, sozusagen die Mutter aller Touren, die Ochsentour.
Die Ochsentour ist in der Mitgliedschaft inbegriffen und hat nichts mit Ferien auf einem Bauernhof zu tun. Die Ochsentour ist eher keine Erholungsreise, auch kein Kurz-Trip, sie kann Jahre, sogar Jahrzehnte dauern, die meisten kommen nie an, sie geben unterwegs auf, weil ihnen Kondition und Wille fehlen oder weil sie sich einfach nicht warm genug angezogen haben.
Ich werde das Ziel nie erreichen
Dabei ist das am weitest entfernte Ziel der Ochsentour, räumlich gesehen, nicht mal sonderlich weit weg – für mich zumindest. Ich wohne in Berlin-Prenzlauer Berg. Bis zur Willy-Brandt-Straße brauche ich Google Maps zufolge mit dem Rad gerade mal 26 Minuten. 6,7 Kilometer werden angezeigt und nur leichte Anhöhen. Keine Himalaya-hohen Berge, nicht mal Kilimandscharo-hohe. Und doch, das kann ich jetzt schon sagen, werde ich dieses Ziel niemals erreichen, ins Bundeskanzleramt werde ich es höchstens als Besucher schaffen, aber nicht als Kanzler. Weil ich anders als Genosse Olaf nicht für die Ochsentour geschaffen bin.
Sie hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag: „Die Bezeichnung Ochsentour beschreibt den häufig mühsamen Verlauf einer Politikerkarriere, insbesondere seine Parteilaufbahn – ,dem Lauf durch Orts- und Kreisverbände, Gemeinde- und Stadträte.‘ Diese beginnt auf der lokalen Ebene mit der Übernahme kleinerer Parteiämter – meist in den Jugendorganisationen der Parteien. Diesen schließen sich kommunale Aufgabenbereiche und Posten an. Später kommt es bei Erfolg und Durchhalten zur Vergabe bedeutenderer politischer Positionen.“
„Erspare dir den Frust, mach was Vernünftiges“
Die Ochsentour, auch das lerne ich bei Wikipedia, ist eine ironisch geprägte Bezeichnung, die Otto von Bismarck zugeschrieben wird. Längst aber ist sie ein allseits genutztes Synonym für: „Da kannst du eh nichts erreichen, erspare dir den Frust und mach‘ was Vernünftiges.“ Ich würde mal behaupten, jeder, der mit dem Gedanken spielt, in eine Partei einzutreten, wird vor der Ochsentour gewarnt. Und so wie das klingt, gibt es wohl kaum schlimmere Touren, höchstens vielleicht eine sommerliche Bier-Bike-Fahrt durch Berlin.
Genosse Folge 1 – Karteileiche 17.30
Aber dann erzählt mir bei meinem ersten Abteilungsstammtisch ein Genosse, der schon länger dabei ist, dass sich die Zeiten geändert haben und die Ochsentour womöglich gar nicht so schlimm ist. „Du wirst sehen“, sagt er, „wenn du dich wirklich engagieren willst, kann das mit einem Amt auch ganz schnell gehen.“ Kurz darauf stehen die turnusmäßigen Wahlen an und aus der Ankündigungsmail erfahre ich, dass es vielfältige Möglichkeiten gebe, Verantwortung in der und für die SPD-Bötzowviertel oder anderen Gremien der SPD zu übernehmen. „Ihr seid alle herzlich eingeladen, Euch zur Wahl zu stellen und Euch an den Wahlen zu beteiligen.“
Soll ich mich zur Wahl stellen? Das letzte Mal, dass ich mich für ein Amt zur Wahl gestellt habe, war vor 36 Jahren, in der 9. Klasse. Damals wurde ich stellvertretender Klassensprecher. Ein Amt, das mein Leben nicht wirklich veränderte. In die Schule musste ich sowieso. Aber wie viel Zeit und Mühe wird mich ein Parteiamt kosten? Was wird auf mich zukommen? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich es ernst meine mit meinem Engagement, dann gehört es auch dazu, Verantwortung zu übernehmen. Also kündige ich in der Abteilungssitzung an, dass ich mir vorstellen könne, Beisitzer im Abteilungsvorstand zu werden und KDV-Delegierter.
Politik von der Pike auf lernen
KDV steht für Kreisdelegiertenversammlung, in Pankow trifft sie sich drei bis viermal im Jahr, alle Abteilungen schicken ihre Vertreter, um dann über Anträge zu diskutieren und abzustimmen. Im Prinzip sind es Landesparteitage auf Kreisebene. Und wenn ich etwas verändern will, dann ist der normale Weg: einen Antrag schreiben und eine Mehrheit in der KDV finden. Außerdem, so wird mir gesagt, biete die KDV einen guten Einblick in politische Parteiarbeit. Und das ist, was ich auch will: Politik von der Pike auf lernen.
Wer sich zur Wahl stellt, wird gewählt
Am Wahlabend kommen so viele zur Abteilungssitzung wie sonst nie: 24 Mitglieder drängen sich im Raum. Auf dem Tisch stehen Gebäck und Getränke. Erst wird eine Versammlungsleiterin gewählt und dann in diversen geheimen Wahlrunden die Abteilungsvorsitzenden mitsamt ihrer Stellvertreter, eine Kassiererin, ein Schriftführer, die Beisitzer, ein Senioren- und ein Internetbeauftragter, dann die Kreisdelegierten. Bei jeder Wahl muss die Quotierung beachtet werden. Alles in allem wird der Abend drei Stunden dauern. Das für mich Erstaunliche: Es wird keine einzige Kampfkandidatur geben, weil letztlich alle, die sich zur Wahl stellen, gewählt werden. Auch ich.
So wird es eine Woche später auch bei der AG Migration und Vielfalt sein, für die ich mich anmelde. In Pankow gibt es zehn verschiedene Arbeitsgemeinschaften, die jedem Mitglied offenstehen: unter anderem eine AG Arbeit, eine AG Bildung, eine AG für Akzeptanz und Gleichstellung und eine AG gegen Rechtsextremismus. Mich interessiert vor allem das Thema Migration, nicht nur, weil es gerade so heftig diskutiert wird, sondern auch weil ich einen Vater habe, der eingewandert ist und ich wegen meines Nachnamens damit groß geworden bin, dass mich Menschen gefragt haben, woher ich komme und wo ich so gut Deutsch gelernt habe.
Am Ende der Woche habe ich vier Ämter
Am Ende der Wahlwoche habe ich vier Ämter inne. In meiner Abteilung bin ich Beisitzer im Vorstand und KDV-Delegierter, in der AG Migration und Vielfalt bin ich ebenfalls Beisitzer im Vorstand und Delegierter der Landesdelegiertenkonferenz. Was zur Folge hat, dass ich zu vier neuen Whats-App-Gruppen zugefügt und in den kommenden Wochen einige Termine mehr im Kalender haben werde. Vor allem samstags. Weil die Vorstandssitzungen und Delegiertenkonferenzen offenbar immer samstags stattfinden. Ich werde eine schon länger geplante Reise mit meiner Freundin absagen müssen und einige Werder-Spiele verpassen. Ich werde schlicht weniger Zeit haben. Und spüre, dass ich in Zukunft noch oft zwischen privatem Vergnügen und Parteiarbeit abwägen muss.
Das Gute aber ist: Wenn ich irgendwann so fertig sein sollte, dass ich Urlaub brauche, kann ich mich an den Reiseservice der SPD wenden und zum Beispiel eine zweiwöchige Sonnenkreuzfahrt auf dem Nil buchen für 1749 Euro. Zumindest preislich ist die Ochsentour unschlagbar. Der Mitgliedsbeitrag ist vom Einkommen abhängig. Insofern kostet mich die Ochsentour 241,32 im Jahr, macht 20,11 im Monat. Dafür könnte ich nicht mal eine Stunde Bier-Bike fahren: Die kostet 30 Euro pro Person.