Am 12. April 1954 nahm Bill Haley „Rock Around The Clock“ auf – und nichts war mehr wie zuvor. Doch das war nur der Anfang: Hier zwölf revolutionäre Hits, die alle Regeln neu schrieben – von den Beatles über Udo Lindeberg bis Nirvana.
Fast hätte die Rock’n’Roll-Revolution nicht stattgefunden – wegen einer Sandbank im Delaware River. Bill Haley und seine Band The Comets waren am 12. April 1954 um elf Uhr für einen Studio-Termin in New York gebucht – doch erst lief ihre Fähre auf, dann nahmen sie sich zuerst einen anderen Song vor. Es blieben noch 40 Minuten Studiozeit. Dann gab es technische Probleme. Noch 15 Minuten. Haley und den Comets gelangen gerade mal zwei Aufnahmen von „Rock Around The Clock“ – doch das reichte. Ein Jahr später wurde das Stück für den Film „Saat der Gewalt“ ausgewählt, es begeisterte die Jugend so sehr, dass sie die Kinosäle zerlegte. Der Rock’n’Roll war auf die Welt gekommen. Die Single verkaufte in den nächsten Jahren 25 Millionen Exemplare.
Und sie sollte nur der Anfang sein: Hier zwölf weitere Singles, nach denen die Welt eine andere war.
Chuck Berry Ende der Fünfziger Jahre in Chicago, Illinois
© Michael Ochs Archives
1. „Maybellene” von Chuck Berry, 1955
Chuck Berry erfand mit diesem Stück die Rock’n’Roll-Gitarre. Er riss die Barrieren zwischen Country, Blues, weißem und schwarzem Publikum nieder. Und: Er wurde mit diesem selbstkomponierten Stück der erste Rock’n’Roll-Songwriter – Elvis Presley und Bill Haley schrieben ihre Stücke nicht selbst. Ursprünglich basierte „Maybellene“ auf einem Country-Tanzstück, doch Berry motzte es mit einem gewaltigen Beat auf, schrieb dazu einen Text über nächtliche Autofahrten und Teenager-Romantik. Dann gab er ihm neuen Titel „Maybellene“ – nach einem Buch, das er in der dritten Schulklasse gelesen hatte. Darin war es der Name einer Kuh gewesen – was aber niemanden störte: Der Song wurde ein Hit sowohl in den Rhythm’n’Blues- als auch in den Pop-Charts.
Elvis bei einem Auftritt in den 50ern. Er brachte den unverblümten Sex in die Popmusik.
2. „Heartbreak Hotel“ von Elvis Presley, 1956
Er war ein junger Lkw-Fahrer und hatte noch keinen großen Hit. Was tun? Einen langsamen Blues-Song einzuspielen, wäre das Allerletzte gewesen, was einem Sänger im Jahr 1955 eingefallen wäre – ein garantierter Flop. Doch genau das tat Elvis Presley. Er hatte schon vorher die Trennlinie zwischen „schwarzer“ und „weißer“ Musik übersprungen, aber noch kein Millionenpublikum damit konfrontiert, und schon gar kein älteres. Mit „Heartbreak Hotel“ brachte er den Generationenkonflikt in die Welt und den unverblümten Sex in die Popmusik. Er wurde die meistverkaufte Single des Jahres, kam in die Country-, R&B- und Pop-Charts – und gab Millionen Teenagern einen Lebenssinn, unter ihnen John Lennon.
Die Beatles spielen „I Wanna Hold Your Hand“ in der Show „Late Scene“ am 25. November 1963
© David Redfern
3. „I Want To Hold Your Hand“ von den Beatles, 1963
Sie hatten vorher in England zwar schon drei Nummer-Eins-Hits – doch mit diesem Song eroberten die Beatles nicht nur Amerika, sondern starteten das, was wir heute „die Sixties“ nennen. Als sie nach dem Chart-Erfolg zum ersten Mal im US-Fernsehen auftraten, brachen sie sämtliche Zuschauer-Rekorde, in New York soll für ein paar Stunden die Verbrechensrate gesunken sein. Und vor den Fernsehgeräten im ganzen Land wurden ad hoc Bands gegründet: Die Byrds, Loving’ Spoonful und Mamas & Papas waren überwältigt von dem Optimismus, den das Stück verbreitete. Pech für die Friseure in den USA: Von nun an wuchsen die Haare.
Diana Ross (r.) und ihre Supremes singen 1964 ihren Hit „Where Did Our Love Go“ während eines Empfangs in einem Londoner Hotel
4. „Where Did Our Love Go” von den Supremes, 1964
Bis zu diesem Stück wurde die Girl-Group um Diana Ross bei ihrem Plattenlabel nach acht Flops abschätzig die „No-Hits-Supremes“ genannt. „Where Did Our Love Go”, der erste Millionenerfolg, sollte das ändern – und nicht nur das. Die Supremes wurden mit 13 Hits eine der erfolgreichsten Gruppen der Sechziger Jahre, machten poppige Soulmusik hoffähig und öffneten Dutzenden weiteren schwarzen Acts die Tür zum weißen Amerika. Das freute dann endlich auch ihr Label Motown Records: Aufgrund des Erfolgs der ehemaligen „No-Hits-Supremes“ erwarb die Firma aus Detroit einen Spitznamen – Hitsville USA.
Rock-Revolutionär und später Nobelpreisträger: Bob Dylan
© Universal Music
5. „Like A Rolling Stone” von Bob Dylan, 1965
Damit setzte er der Popmusik einen Doktorhut auf und erfand den modernen Rock. Alles an Bob Dylans Hit von 1965 war anders: Mit sechs Minuten und 13 Sekunden war das Stück über doppelt so lang wie die übliche Hit-Ware. Dann der Text: Auf über 20 Schreibmaschinenseiten hatte Dylan sich „ausgekotzt“, wie er sagte, eingedampft auf seine endgültige Länge übertraf er aber immer noch alles, was damals auf dem Markt war. Eigentümlich mysteriös handelte er von jemanden, der einfach nicht checkt, was Sache ist – trotzdem gelang ihm mit „Like A Rolling Stone“ ein Hit. Die Beatles, Rolling Stones und Jimi Hendrix hörten gut zu: Von nun an wurden Pop-Songs mit einem Fremdwörterbuch neben der Schreibmaschine getextet.
Schwitzen und schreien: James Brown ging immer in die Vollen
© David Corio
6. „Cold Sweat Part 1 & 2“ von James Brown, 1967
Und es begab sich im Mai 1967, dass sich der Soul-Star James Brown und seine Band im Halbkreis um die Studio-Mikrofone versammelten. Der Sänger hatte seinem Bandleader Pee Wee Ellis schon vorher die Bass-Melodie „zugegrunzt“, wie der es nannte, und dann legten sie los: Ein nackter, treibender Groove, funky Gitarren, und James Brown schrie dazu, wie sehr ihm die Liebe seiner Frau den Schweiß aus allen Poren treibt. Sieben Minuten und 30 Sekunden später war das Stück fertig, sie spielten es kein zweites Mal und ergänzten auch kein weiteres Instrument. Eine Blitzgeburt. Das Kind nennen wir heute „Funk“.
Alles klar? Udo Lindenberg mit seinem Panikorchester in den 70er Jahren live in der Hamburger Fabrik
© Hardy Schiffler
7. „Alles klar auf der Andrea Doria“ von Udo Lindenberg, 1973
Klar, es gab schon vorher deutsche Sänger, die Pop und Rock mit deutschen Texten sangen, von Drafi Deutscher bis Rio Reiser. Doch Udo Lindenberg katapultierte das mit seinem Hit von 1973 in eine neue Dimension. Er sagt selbst, er hätte damals nicht genau gewusst, was er da tat, aber der Doppelkorn, den er im Studio beim Einsingen tankte, muss jeden Zweifel beseitigt haben: Nach diesem Song konnte niemand mehr sagen, dass Rockmusik und die deutsche Sprache nicht zusammenpassen. Denn es waren nicht nur die Worte, die er benutzte, sondern die Weise, mit der sie vortrug: ultralässig und ganz selbstverständlich. Das, was wir heute „Jugendsprache“ nennen, Deutschpunk, Neue Deutsche Welle und sogar Deutschrap fanden hier ihren Paten.
No future! Die „Sex Pistols“ im Dezember 1976 während ihrer „Anarchy Tour“
© Graham Wood
8. „Anarchy In The UK“ von den Sex Pistols, 1976
Es war nicht die erste Punk-Single, aber es war das Stück Vinyl, das alles veränderte. „Anarchy In The UK“ definierte den Sound: ein Gitarren-Tsunami und ein Gesang, der alles hinwegfegte. Damit ging der Look der Sex Pistols einher, mit Sicherheitsnadeln, grellen Stachelfrisuren und Fetisch-Mode der späteren Design-Ikone Vivienne Westwood – wer heute eine Jeans mit Riss kauft, ist ein Kind von Johnny Rotten & Co. Das Cover der ersten Single-Pressung – pures Schwarz in Anlehnung an die schwarze Flagge der Anarchisten – sollte das Artwork für Pop-Platten revolutionieren. Doch das entscheidende war: Die Sex Pistols zogen damit eine ganz neue Grenze zwischen Alt und Jung – plötzlich waren die Beatles und Stones gesetzte Herren von Gestern.
Der andere King: Michael Jacksons Album „Thriller“ ist mit 67 Millionen verkauften Exemplaren das erfolgreichste Album aller Zeiten
© Elizabeth Dobbie
9. „Billie Jean“ von Michael Jackson, 1982
Heute sind Rap, HipHop und Black Musik das erfolgreichste Genre der Welt. Das war aber nicht immer so – und dies ist der Song, der dafür verantwortlich ist. Zuvor wurden Künstler, die nicht weißer Hautfarbe waren, selbst beim jugendlichen Musiksender MTV nicht gespielt. Dann kam Michael Jackson, „Billie Jean“, das preisgekrönte Video und das zugehörige Album „Thriller“, bis heute mit rund 67 Millionen Verkäufen die erfolgreichste Platte aller Zeiten. Doch Michael Jackson bezahlte dafür einen hohen Preis: Schönheits-OPs, psychische Probleme und sein Ruhm machten ihn zu einem mysteriösen Kauz. Und nicht nur er musste dafür bezahlen: die Kinder, die ihm Missbrauch vorwarfen, auch.
Grandmaster Flash & The Furious Five lieferten 1982 als erste einen Song über das Leben in einem schwarzen Viertel in New York
© Fryderyk Gabowicz
10. „The Message“ von Grandmaster Flash & The Furious Five, 1982
Man muss nicht einmal des Englischen mächtig sein, um zu verstehen, was dieser Song 1982 auslöste: Während Grandmaster Flash & The Furious Five im Video ihren Text über den Ghetto-Alltag rappen, sieht man Krankenwagen, Obdachlose, Müll – und am Ende marschieren natürlich die Cops auf. Wie bei den anderen Singles in dieser Liste auch waren sie nicht unbedingt die ersten, die bestimmte Elemente in ihre Songs einbrachten. Aber sie waren die ersten, die sie dank des Erfolges der Welt vorhielten: Das Stück über das Leben in einem schwarzen Viertel in New York wurde 1982 ein weltweiter Top-Ten-Erfolg. Die Blaupause für HipHop und Gangsta-Rap – bis heute.
Auflegen, bis die Tanzfläche brannte: Marshall Jefferson 1986 in Chicago.
© Paul Natkin
11. „Move Your Body“ von Marshall Jefferson, 1986
Keine Love Parade, keine Klubkultur ohne diesen Track, der die Formel für House Music lieferte – sogar das pumpende Piano ist schon dabei. Doch die Produktion war alles andere als ein Selbstgänger: Ursprünglich nahm Marshall Jefferson den Rhythmus viel langsamer auf, erst im Anschluss spielte er ihn so schnell ab, wie wir es heute kennen und lieben. Dann spielte er den Track begeistert Freunden und anderen Produzenten vor. Deren Urteil: ein fürchterliches Stück Dreck. Gut, dass er es trotzdem in Chicagos Club „Music Box“ auflegte: Nicht nur, dass die Tanzfläche tobte – man ließ ihn erst wieder gehen, nachdem er es sechsmal hintereinander abgefahren hatte. Eine knappe Dreiviertelstunde lang.
Nirvana 1991 bei einem Foto-Shooting in Frankfurt. Von links: Dave Grohl (Schlagzeug), Kurt Cobain (Gesang und Gitarre) and Krist Novoselic (Bass).
© Paul Bergen
12. „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana, 1991
Gut, dass Kurt Cobain nicht wusste, dass es tatsächlich ein Deo namens „Teen Spirit“ gab – sonst hätte er den Song wahrscheinlich nicht geschrieben. Eine befreundete Musikerin hatte ihm das Stichwort geliefert, und als er daraufhin den Song schrieb und ihn zum ersten Mal der Band vorspielte, fand diese ihn lächerlich, weil er nach abgehalftertem Seventies-Rock klang. Den Unterschied machte das Video: Darin springen derart entfesselte Teenager und Cheerleader umher, dass man meint, das Filmset würde gleich zusammenbrechen. Stattdessen lag die Rock-Szene, wie man sie dahin kannte, in Trümmern: Der Song beendete die 80er Jahre, alles, was zählte war nun Grunge.