EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat den Boden bereitet für eine Zinssenkung im Juni. Die Notenbank geht damit allerdings das Risiko ein, die Inflation zu befeuern.
Die Uhr in Frankfurt rückte bereits auf 15.30 Uhr vor an diesem Donnerstagnachmittag, als ein spanischer Journalist bei der EZB-Pressekonferenz die letzte Frage an Präsidentin Christine Lagarde richtete: Wie viel an Abweichung die Notenbank bei den Inflationsraten denn bereit sei hinzunehmen und dennoch sagen würde, dass sie ihr Ziel von zwei Prozent erreicht habe. Lagarde antwortete nicht direkt.
Doch zumindest ihr Lächeln ließ ein gewisses Gefühl des Triumphes durchblicken, und die Haltung: Wir haben die Inflation besiegt. Die ist immerhin von rund zehn auf zuletzt nur noch 2,4 Prozent gefallen. „Wir beobachten einen Rückgang der Inflation, wir befinden uns in einem disinflationären Prozess“, sagte Lagarde.
„Alle Signale auf Lockerung“
Damit war es ganz klar: Lagarde und mit ihr der Rat an der Spitze der Notenbank hat den Weg bereitet für eine Zinssenkung am 6. Juni. „Alle Signale stehen auf geldpolitische Lockerung“, sagt Florian Heider, Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung SAFE in Frankfurt. Ähnlich äußerte sich Michael Holstein, Chefvolkswirt der DZ Bank. „Die erste Zinssenkung wird im Juni kommen, darauf hat die EZB sich und die Marktteilnehmer nun eingestellt. Die Inflation hat das Inflationsziel mittlerweile von 2 Prozent fast erreicht und die Konjunktur in Europa ist schwach.“
Die EZB selbst hat mit einem neuen Satz in ihrer geldpolitischen Erklärung die Bedingungen dafür genannt, wann eine Zinssenkung „angemessen“ ist. Der neue Satz heißt in komplizierter Notenbank-Sprache: „Wenn die aktualisierte Bewertung der Inflationsaussichten, der Dynamik der zugrunde liegenden Inflation und der Stärke der geldpolitischen Transmission durch den EZB-Rat das Vertrauen des EZB-Rats in eine nachhaltige Annäherung der Inflation an das Ziel weiter stärken würde, wäre es angemessen, die derzeitige restriktive Geldpolitik zu reduzieren.“ Lagarde selbst zitierte den Satz mehrfach in der Pressekonferenz und wies dezidiert darauf hin, dass der Satz neu ist. Mehr Zaunpfahl ging also nicht, oder wie Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer schreibt: „Es muss schon viel passieren, damit die EZB ihre Zinsen im Juni nicht senkt.“
Folglich würde der Einlagensatz als derzeit wichtigster Leitzins der Eurozone vermutlich am 6. Juni um 25 Basispunkte auf dann 3,75 Prozent sinken. Am Donnerstag beließ die EZB alle drei Zinssätze unverändert, der Hauptrefinanzierungsatz als klassischer Leitzins verbleibt also zunächst bei 4,5 Prozent. Einige Stimmen im Rat, so berichtete es die Präsidentin, hätten sich bereits an diesem Tag für eine Zinssenkung ausgesprochen.
Das führt zurück zur Frage des spanischen Journalisten und der Volatilität der Inflationsraten. Lagarde sagte, „ein paar Schlaglöcher auf dem Weg“ seien in den Projektionen enthalten. Mit anderen Worten, wenn die Inflation ein paar Monate mal höher läge, würde das die EZB nicht von ihrem Kurs abbringen.
Dauerhaft erhöhte Inflation
Doch was ist, wenn die Inflationsrate nicht sinkt, sondern sogar wieder ansteigt und dauerhaft oberhalb des Ziels von zwei Prozent verharrt? Immerhin stiegen die Preise für Dienstleistungen zuletzt um 4,0 Prozent und die so genannte hausgemachte Inflation – laut EZB-Definition „für den inländischen Verbrauch produzierte Waren und Dienstleistungen mit geringer Importintensität“, legte sogar um 4,5 Prozent hinzu. Hinzu kommt, wie auch Lagarde einräumte, das Risiko eines Energiepreisanstieges wegen der kritischen Lage im Nahen Osten.
Vor diesem Hintergrund könnte eine Zinssenkung im Juni sich als geldpolitischer Fehler erweisen. Krämer bezeichnet die sich abzeichnende Zinssenkung als riskant, weil die Verbraucherpreise zuletzt nicht nur in den USA, sondern auch im Euroraum wieder deutlich stärker gestiegen sind, was vor allem an den kräftig steigenden Löhnen liegt. Er rechnet deshalb mit weniger Zinssenkungen als der Konsens der Ökonomen. „Auf Dauer wird die EZB das ungelöste Inflationsproblem nicht ignorieren können“, so Krämer.
Risiko für Glaubwürdigkeit der EZB
Sollte die EZB also die Zinsen zu früh senken, könnte dies – so die Argumentation von Ökonomen wie Krämer – ein Wiederaufflammen der Inflation befeuern. Schlimmstenfalls müsste sie sogar wieder straffen, was ihrer Glaubwürdigkeit schaden würde.
Zweimal hat die EZB in ihrer rund 25-jährigen Geschichte bereits einen „Policy Mistake“ begangen: einmal mit einer Zinserhöhung 2011 in Reaktion auf teures Öl, während die Griechenland-Krise bereits eskalierte. Und Lagarde selbst hat sehr lange gezögert, mit steigenden Zinsen auf den Inflationsschub 2021/22 zu reagieren. Sollten Ökonomen wie Krämer recht behalten, wäre der Triumph über die Inflation ein Pyrrhussieg.