Wie atmen Sie gerade? Oft nehmen wir gar nicht wahr, dass unser Körper uns durchgehend mit Luft versorgt. Dabei kann der Fokus auf unsere Atmung unser Leben erheblich verbessern. Wie das gehen soll, verrät Atemtrainer Timo Niessner. 

Wir alle tun es, jeden Tag, unser Leben lang. Etwa 10 bis 15 Mal pro Minute. Wir atmen. Es gehört zu den Dingen, die beinahe unbemerkt ablaufen, die unser Körper für uns übernimmt, ohne, dass wir uns großartig Gedanken darüber machen müssen. Wir atmen automatisch ein, automatisch aus und versorgen unseren Körper dadurch mit Sauerstoff. Wir verlassen uns darauf, dass unser Organismus schon weiß, was zutun ist. Laut Timo Niessner verpassen wir dadurch manchmal die Möglichkeiten, die unsere Atmung noch bereithält. 

Der Wahl-Grazer ist Breathwork-Trainer und hilft Menschen dabei, den Weg zurück zur natürlichen Atmung zu finden – und mit gezielten Atemübungen ihre Ziele zu erreichen. Im Gespräch mit dem stern erzählt er, auf welche Bereiche unsere Atmung Einfluss nimmt, warum die meisten von uns die natürliche Atmung verlernt haben und warum tief durchatmen nicht unbedingt die beste Idee bei Stress ist.

Herr Niessner, Sie bringen Menschen bei, wie man richtig atmet. Theoretisch machen wir das doch aber Zeit unseres Lebens automatisch. Kann dabei denn wirklich so viel schiefgehen, dass ein Trainer nötig ist? 
Solange wir atmen, leben wir. Und wenn wir aufhören zu atmen, ist unser Leben auch zu Ende. Damit ist unsere Atmung etwas Elementares, sie beeinflusst viele Bereiche unseres mentalen und körperlichen Zustandes. Für mich ist die Atmung aber auch so etwas wie der Schlüssel in eine andere Welt, weil sie – richtig angewendet – auch einen Zugang zu unserem Unterbewusstsein ermöglichen kann.  

Inwiefern?  
Unsere Atmung ist direkt mit unserem vegetativen Nervensystem verknüpft. Das können wir nutzen. Wir können zwar nicht ohne Weiteres von jetzt auf gleich unsere Herzfrequenz senken, aber unsere Atmung ermöglicht es uns Schritt für Schritt. Damit ist sie ein enorm wertvolles Werkzeug.  

Wann können wir uns das Werkzeug Atmen noch zunutze machen? 
Nehmen wir an, ich bin wegen unseres Gesprächs aufgeregt und möchte nicht, dass Sie mich nervös sehen. Dann kann ich meinen Körper durch bewusstes Ein- und Ausatmen regulieren. Es reicht, wenn ich dafür die Augen schließe, in den Bauch statt in die Brust atme und meinen Atem dadurch verlangsame. Dadurch komme ich automatisch in eine Beruhigung meines Nervensystems.  

Stress wegatmen: Atemübungen für mehr Gelassenheit im Alltag

Nervensystem, Herzfrequenz – welche Bereiche unseres Körpers/Seins beeinflusst die Atmung noch? 
Wie viel Zeit haben wir? Wir können alles von unserer sexuellen Aktivität über Durchblutungsstörungen bis hin zu einer besseren Konzentration durch gezielte Atemübungen ändern. Es gibt sogar neue Studien, die zeigen, dass eine niedrigfrequente Atmung Einfluss darauf haben kann, ob wir im späteren Alter an Alzheimer erkranken oder nicht. Wir können mit den richtigen Atemübungen viel erreichen.  

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Stellen wir uns vor, ich würde meine Atmung umstellen wollen, wann könnte ich mit ersten Effekten rechnen? 
Das können wir ausprobieren. Wie atmen Sie gerade? 

Ehm…normal? 
Genau jetzt haben Sie Ihre Atmung bereits verändert, merken Sie das? 

Stimmt, ich passe die Länge und Tiefe von Ein- und Ausatmung aneinander an. 
Genau. Sobald wir darauf achten, wie wir atmen, atmen wir anders, achten mehr auf eine gute Balance und werden uns des Vorgangs bewusster. Das heißt, jeder Gedanke, jedes Gefühl und jede Handlung beeinflusst unsere Atmung. Das kann positiv sein – aber auch kontraproduktiv werden, zum Beispiel bei Stress.  

Wer Stress hat, dem wird gerne geraten: Tief durchatmen. Keine gute Idee? 
Der Reflex an sich ist schon gut, nur die Umsetzung leider oft dürftig. Das Problem ist, dass die Leute zwar tief ein-, aber dann zu wenig ausatmen. Besonders, wenn wir Stress oder Angst haben, sollten wir so viel ausatmen, wie möglich. Am besten so lange, bis der Bauch anfängt, sich anzuspannen. Erst dann können wir eine kleine Pause machen und wieder einatmen. Denn erst dann ist unsere Lunge komplett leer, sodass wir sie mit frischer Luft füllen können. Was wir stattdessen oft in Extremsituationen beobachten: eine sehr flache, brustlastige Atmung, bei der die Luft gar nicht erst in der Tiefe der Lunge ankommt. 

Timo Niessner war Teamleiter, hat in jungen Jahren viel Geld verdient – und sich dann gegen eine steile Karriere und für seine Leidenschaft entschieden: Das Apnoetauchen. Mittlerweile ist er überzeugter Atemtrainer und Business Coach.
© Thomas Jeindl

Warum ist die Atmung in den Brustraum kontraproduktiv? 
Das liegt vor allem daran, dass wir im horizontalen Bauchraum ein viel größeres Volumen haben, mit dem wir arbeiten können. Unser Brustkorb begrenzt die Ausdehnungsmöglichkeiten der Lunge enorm, das ist im Bauchbereich anders, dort können sich die unteren fliegenden Rippen öffnen und mehr Raum für die einströmende Luft schaffen.

Und warum atmen so viele von uns trotzdem in den Brustraum? 
Wir verlernen das natürliche Atmen im Alter von fünf bis sieben Jahren. Sobald wir in die Schule gehen und dem Leistungsdruck ausgesetzt sind, kann man statistisch betrachtet sagen, verändert sich unsere Atmung. Der Körper rebelliert damit quasi gegen den Stress.  

Wie die ideale Atmung aussieht

Als Erwachsener hört man immer wieder, dass Bauchatmung die bessere ist – und macht es oft trotzdem nicht richtig. Woran hakt es? 
Die meisten von uns nehmen gar nicht bewusst wahr, wie sie atmen. Warum sollten sie also etwas daran verändern? Man müsste also erstmal ein körperliches Bewusstsein für die Kraft der Atmung schaffen. Ich sage immer, mit der Atmung spielen, stärkt unsere Wahrnehmung für sie.  

In Ihrem Buch schreiben Sie auch darüber, wie der Fokus auf die Atmung auch Ihre Wahrnehmung verändert hat, vor allem beim Apnoetauchen. Dort steht unter anderem: Das Meer ist Ihr Spiegel. Wie meinen Sie das? 
Ich bin früher immer mit dem Kopf durch die Wand, war Handballspieler, Rugby-Spieler, ein echtes Energiebündel. Und so habe ich zuerst versucht beim Apnoetauchen auch gegen das Wasser und die Tiefe, die die Atmung mit sich gebracht hat, anzukämpfen. Aber es gelang mir nicht. Ich konnte nur mit dem Wasser fließen. Ich konnte dort nur bestehen, wenn ich wirklich bei mir war – mit allem, was dazugehört. 

Unter anderem Einsamkeit und Schmerz, wie Sie schreiben. Führt uns die natürliche Atmung also auch zu den Orten, wo wir eigentlich gar nicht hinschauen wollen? 
Genau dorthin. Und genau das kann uns ein viel authentischeres Leben ermöglichen, wenn wir es zulassen. 

Und wie genau? 
Das Zauberwort ist Stille. In unserer lauten und leistungsorientierten Gesellschaft erlauben wir es uns kaum noch, wirklich Langeweile oder Stille zuzulassen. Auch, weil wir Angst vor dem haben, was dann zum Vorschein kommt. Wenn wir dann anfangen, uns nur auf den Atem zu konzentrieren und in uns ankommen, dann sitzen wir da und merken: Ich habe Probleme mit meinem Körper, eine Vater-Mutter-Thematik, bin unzufrieden mit meiner Partnerschaft oder, oder, oder. Das sind alles Sachen, die zum Leben dazugehören – aber wir verdrängen eben gerne und lenken uns im Außen ab.  

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Wie sieht eine natürliche Atmung idealerweise aus? 
Erstmal atmen wir durch die Nase ein, unser Bauch sollte sich heben, sodass wir in eine primäre Zwerchfellatmung kommen. Halten wir diese Atmung durch, befinden wir uns den ganzen Tag über in einem regenerativen Zustand. Bei den meisten Leuten ist das allerdings genau andersrum. Die sind in einem hochaktiven Zustand, der sehr viel Energie und Kraft kostet. 

Was zeichnet diesen hochaktiven Zustand aus? 
Es ist eine Art dauerhafte Alarmbereitschaft. Wenn wir zum Beispiel Social Media nutzen, ist unsere Bauchdecke nach etwa zehn Minuten ganz leicht angespannt. Einfach, weil wir hinter jedem Swipe einen neuen Kick erwarten. Das reicht, damit wir in diesem Bereich nicht mehr frei atmen können. In diesem Zustand sind die meisten von uns dauernd unterwegs. Sie atmen flach in den Brustbereich, statt tief in den Bauch, weil ihr Körper eine Grundanspannung hat. Das wiederum sorgt für eine Aktivierung des Nervensystems, der Körper denkt, es droht Gefahr. Dieser Zustand kostet uns viel Energie, weil er für Extremsituationen gedacht ist.  

Wenn ich das ändern und zurück zur natürlichen Atmung kommen möchte, welchen Einsteiger-Tipp würden Sie mir geben? 
Ich glaube, das einfachste und wichtigste ist, ab und zu einfach mal die Augen zu schließen und bewusst auf die Atmung zu achten. Es geht gar nicht um die Beeinflussung, sondern erstmal nur um die Wahrnehmung. Wie ist meine Atmung? Atme ich in den Bauch oder in die Brust? Und wie fühlt es sich eigentlich an, wenn die Luft meinen Körper durchströmt? Es sind diese einfachen Dinge, die oft schon einen großen Unterschied machen.