Der deutsche Ingenieur Lutz Kayser gründete das erste private Raumfahrtunternehmen. Statt im Weltall endete das Projekt im afrikanischen Dschungel – und in diplomatischen Verwicklungen.
In den Siebziger Jahren, Jahrzehnte vor Elon Musk oder Jeff Bezos, machte sich ein deutscher Ingenieur daran, mit seinem Unternehmen den Weltraum zu erobern – und damit Geld zu verdienen. Sein Name: Lutz Kayser. Sein Unternehmen: Die Orbital Transport- und Raketen Aktiengesellschaft, kurz Otrag.
Kayser wurde 1939 in Stuttgart geboren und tüftelte und experimentierte schon als Kind mit Raketen herum, wie „PM“ schreibt. Später studierte er Aeronautik und Raumfahrt, 1970 gründete er seine erste Firma, aus der ein paar Jahre später die Otrag hervorging. Kaysers Bestreben ist es, eine kommerziell nutzbare kostengünstige Rakete zu entwickeln. Geld für seine Entwicklung bekommt er unter anderem vom Bundesforschungsministerium. Aber auch private Investoren stecken Geld in das junge Unternehmen.
Das Konzept seiner Otrag-Rakete: Statt aus wenigen großen bestand sie aus mehreren gebündelten kleineren Triebwerken. Ein einzelnes Triebwerk wurde aus kostengünstigen Standardbauteilen gefertigt. So kamen handelsübliche Rohre als Tank und Scheibenwischermotoren für die Ventile zum Einsatz. Eine Rakete konnte je nach Bedarf aus einer Hand voll vielen – bis zu rund 1000 waren anvisiert worden – dieser Standardtriebwerke von wenigen Mitarbeitern zusammengebaut werden. Für die Steuerung sollten einzelne Triebwerke an- und abschaltbar sein, bei einzelnen Ausfällen sollte das gegenüberliegende Triebwerk automatisch abgeschaltet werden, um die Rakete nicht vom Kurs abzubringen.
Dieses Bündelkonzept sollte die Kosten unten und die Flexibilität hoch halten. Kleine und große Satelliten sollten so kostengünstig ins All transportiert werden, gar Atommüll im Weltraum entsorgt werden. Ein entsprechendes Angebot ließ Kayser laut „Spiegel“ an die Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen gehen. „Das war unsere Philosophie. Nicht High-Tech, sondern Low Cost“, sagt ein ehemaliger Otrag-Mitarbeiter darüber in der Doku „Fly Rocket Fly“.
Ein Testgebiet so groß wie die DDR
Einen ersten Prüfstand für die Triebwerke gab es in Lampoldshausen in Baden-Württemberg. Testflüge der Raketen waren jedoch wegen der dichten Besiedelung in Europa nicht möglich. Auf der Suche nach einem Areal für die Starts wurde Kayser schließlich in Zentralafrika fündig. Von Diktator Mobutu Sese Seko wurde 1976 ein 100.000 Quadratkilometer großes Gebiet im damaligen Zaire zur uneingeschränkten Nutzung gepachtet. Das entspricht in etwa der Größe der ehemaligen DDR. Über dieses Gebiet konnte Kayser im Prinzip frei verfügen, hatte quasi extraterritoriale Rechte. Er sicherte sich auch noch die Rechte zur Schürfung der Bodenschätze. Medien schrieben unter anderem vom „Kayser-Reich“ in Afrika und Mobutus Träumen von einem „afrikanischen Cape Kennedy“.
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Auf der Basis wurde neben einem Kontrollzentrum und einer Abschussrampe unter anderem ein Flughafen errichtet. Für den Teiletransport wurde eine eigene Fluggesellschaft gegründet. Zwei erste Raketenstarts verliefen vielversprechend. Mobutu zeigte sich angetan von dem Projekt. Offenbar, so wurde geschrieben, hoffte er, mit den Otrag-Raketen irgendwann Spionagesatelliten ins All schießen zu können. Der dritte Start, der den Durchbruch bringen sollte, ging allerdings ausgerechnet unter den Augen des Machthabers schief: Die Rakete neigte sich nach dem Start zur Seite und stürzte schließlich in den Dschungel. Schlimmer als der Absturz waren allerdings die diplomatischen und politischen Crashs, die die Otrag mit ihren Aktivitäten in Afrika auslöste.
Otrag in Zaire: Peenemünde im Dschungel?
Zwar beteuerte Kayser stets, dass seine Raketen lediglich für zivile Einsatzzwecke gedacht seien. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ witterte hinter der Otrag jedoch eine „Deckfirma für die BRD-Rüstungsindustrie“ mit der die Bundesrepublik das Verbot für Raketenrüstung umgehe. In der Sowjetunion sah man es ähnlich, ebenso in einigen Nachbarstaaten Zaires. Dort hatte man Angst vor einem neuen Peenemünde im Herzen Afrikas. Von dem Ostseeort auf Usedom aus hatten die Nazis einst mit der V2 die erste Rakete überhaupt in den Weltraum geschossen.
Frankreich wiederum sah zudem unliebsame Konkurrenz für die europäische „Ariane“-Rakete. Bundeskanzler Helmut Schmidt bekam den Ärger über die Otrag bei Afrika-Besuchen und anderen Gelegenheiten ab. Angola weigerte sich wegen der Otrag sogar, diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufzunehmen. „Ich könnte dem Kerl den Hals umdrehen“, soll Schmidt laut „Zeit“ mit Blick auf Lutz Kayser geflucht haben.
Am Ende führten die Verwicklungen dazu, dass Mobutu den unkündbaren Vertag mit der Otrag kündigte. Das Unternehmen machte noch einmal einen neuen Anlauf bei einem anderen Diktator: Bei Muhammar Gaddaffi in Libyen. Auch dieses Unterfangen blieb am Ende glücklos. 1986 wurde die Otrag dichtgemacht. Kayser verbrachte seinen Lebensabend auf der Südsee-Insel Bikendrik Island, das zu den Marhallinseln gehört. Er starb 2019 im Alter von 78 Jahren.
Lutz Kaysers Traum vom ersten privaten Unternehmen, das Raketen ins All schießt, wurde Jahrzehnte nach dem Otrag-Ende von einem anderen Visionär erfüllt: Elon Musks Unternehmen Space X schoss 2008 die erste privat entwickelte Rakete in den Orbit. Vielleicht hat Kayser den Erfolg in seiner Nachbarschaft mitverfolgt: Musks „Falcon I“ startete von Omelek Island, Luftlinie rund 500 Kilometer von Kaysers Alterssitz entfernt.
Quellen: „PM“ (10/2019), „Zeit“ (32/2008), „Der Spiegel“ (33/1978), Otrag.com (Filmseite „Fly Rocket Fly“)