Auf dem Papier ist die Zahl der Betroffenen nicht gestiegen. Aber Forscher sind sicher: Die Statistiken bilden die Lebensrealität armer Familien nicht ab. Ein politisches Projekt wird heiß diskutiert.
Die Zahl der Menschen, die in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, bleibt hoch. Wie das Statistische Bundesamt anhand von ersten Ergebnissen einer Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) mitteilte, waren 2023 gut 17,7 Millionen Menschen davon betroffen. Das waren 21,2 Prozent der Bevölkerung. Gegenüber dem Vorjahr blieben die Werte nahezu unverändert.
Dass die Zahlen stagnieren und sich immerhin nicht verschlechtert haben, wertet der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge nicht als Erfolg: „Das sollte die Politik nicht beruhigen.“ In Wahrheit seien mehr Menschen arm als solche Statistiken zeigen. „Armut breitet sich in die Mittelschicht aus.“ Auch Volkswirtin Irene Becker, die sich mit empirischer Verteilungsforschung beschäftigt, ist sicher, dass die Statistik das Ausmaß an Armut in der Bevölkerung nicht ausreichend abbildet.
Eine Person gilt in der Europäischen Union dann als von Armut oder Ausgrenzung bedroht, wenn mindestens eine der folgenden drei Bedingungen zutrifft: Ihr Einkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze, ihr Haushalt ist von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen oder sie lebt in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung. Für jede dieser Lebenssituationen kann jeweils der Prozentsatz der Betroffenen ermittelt werden.
Weniger als 2751 Euro für vierköpfige Familie
Armutsgefährdet war 2023 etwa jede siebte Person – 14,3 Prozent der Bevölkerung oder knapp zwölf Millionen Menschen. Im Jahr 2022 hatte die Armutsgefährdungsquote 14,8 Prozent betragen. Als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügt. 2023 waren das für Alleinlebende netto 1310 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei kleinen Kindern waren es 2751 Euro im Monat.
Urlaub oder Restaurant sind nicht drin
Von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung waren 6,9 Prozent der Bevölkerung oder 5,7 Millionen Menschen betroffen. Im Jahr 2022 waren es 6,2 Prozent gewesen. Die Betroffenen waren zum Beispiel nicht in der Lage, ihre Miete zu zahlen, eine einwöchige Urlaubsreise zu finanzieren oder einmal im Monat etwas essen oder trinken zu gehen.
Wenn viele Familienmitglieder arbeitslos sind
In einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung lebten 9,8 Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahren beziehungsweise 6,2 Millionen Menschen. 2022 waren es ebenfalls 9,8 Prozent gewesen. Dies war etwa der Fall, wenn in einem Haushalt mit zwei Personen eine Person überhaupt nicht arbeitete und die andere insgesamt nur vier Monate lang Arbeit hatte.
Armutsforscher Butterwegge kann diesen kleinteiligen Zahlen wenig abgewinnen. Besonders aussagekräftig ist für ihn die Einkommensarmut. Dass die Zahl der Betroffenen nicht gestiegen ist, führt in die Irre, sagt er. „Durch die gestiegenen Preise sind mehr Menschen unter Druck geraten, auch wenn sie nach dieser Definition nicht armutsgefährdet sind.“
„Den Menschen ging es faktisch schlechter“
Diesen Kritikpunkt macht auch die Volkswirtin Irene Becker deutlich, die sich mit empirischer Verteilungsforschung beschäftigt. Die Preise seien stärker gestiegen als die Armutsschwelle, die Aussagekraft der Zahlen sieht sie daher kritisch. „Wie stark sich die Menschen einschränken mussten, wird in dieser Statistik nicht deutlich. Den Menschen ging es faktisch schlechter.“
Wenn Familien jeden Cent nicht nur zweimal, sondern dreimal umdrehen müssen, leiden darunter besonders die Kinder, so Butterwegge. Dass die Politik seit Jahrzehnten nichts Grundlegendes gegen Kinderarmut tue, hält er für einen „Langzeitskandal“. Die Kindergrundsicherung wäre aus seiner Sicht der richtige Weg. Das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung steht derzeit erneut auf der Kippe.
In höheren Einkommensschichten hätten die Menschen einen Puffer, sagt Verteilungsforscherin Becker, im unteren Einkommensbereich gebe es keine Rücklagen. „Die Menschen müssen sich verschulden oder sie sparen am Nötigsten.“ Ausgleichsmaßnahmen der Politik werden aus ihrer Sicht zu sehr mit der Gießkanne verteilt. Sinnvoller wäre es, findet Becker, wenn finanzielle Unterstützung gezielter dort ankommen, wo die Not am größten ist.