Laut aktueller Polizeilicher Kriminalstatistik stieg die Zahl der Straftaten in Deutschland um 5,5 Prozent. Welche Schlüsse man daraus ziehen kann, erklärt Professor Frank Neubacher von der Uni Köln.

Herr Professor Neubacher, am Dienstag präsentiert Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2023, am Wochenende gelangten erste Zahlen an die Öffentlichkeit: Die Zahl der Straftaten in Deutschland stieg demnach um 5,5 Prozent auf 5,94 Millionen, 41 Prozent aller Tatverdächtigen besaßen offenbar keinen deutschen Pass – ihre Anzahl scheint besonders stark gestiegen zu sein, und nun fordern die ersten Stimmen bereits eine Verschärfung der Migrationspolitik. Was halten Sie von der Debatte?

Die PKS ist in den letzten Jahren zu einem Stichwortgeber für alle möglichen politischen Interessenträger geworden. Es geht ja damit los, dass es immer die gleiche Zeremonie ist: Nach der Vorab-Berichterstattung über ausgewählte Zahlen hat die Bundesinnenministerin dann die maximale öffentliche Aufmerksamkeit, wenn sie vor die versammelte Presse tritt, um politische Botschaften an den Mann und an die Frau zu bringen. Natürlich sind diese Botschaften immer knackig und verkürzt. Nach der Pressekonferenz wird dann in der Regel eine dünne Broschüre veröffentlicht, das ist der Bericht an die Innenministerkonferenz – da stehen dann auf gut 40 Seiten „ausgewählte Zahlen“ drin. Die reichen aber noch nicht aus, um die Daten wirklich einzuordnen. Bis alle Zahlen vorliegen, vergehen meist noch einmal mehrere Wochen oder Monate. Bis dahin wurden aber längst politisch Pflöcke eingeschlagen.

Kasten Neubacher

In der Tat scheint sich die Stoßrichtung der Debatte schon abzuzeichnen. Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) hat eine Migrationsobergrenze gefordert, sein bayerischer Amtskollege Joachim Herrmann (CSU) denkt über Pushbacks an den Grenzen nach.

Und das, obwohl bislang niemand die Zahlen im Detail kennt. Die Präsentation „ausgewählter Zahlen“ vor einer Veröffentlichung der kompletten Zahlen behindert eine rationale Einordung sowohl durch die Wissenschaft als auch durch eine kritische Öffentlichkeit, sichert aber der Politik erst einmal die ungestörte Deutungshoheit über die Statistik. Dieses Ritual ist einer pluralistischen Informations- und Zivilgesellschaft nicht würdig.

Trotzdem: Ein Kriminalitätsanstieg von mehr als fünf Prozent binnen eines Jahres – das ist doch besorgniserregend?

Man muss diese Daten in einen größeren Zusammenhang stellen. 1993 wurden in der PKS mehr als 6,7 Millionen Straftaten registriert. In den 1990er-Jahren erlebten wir einen allmählichen Rückgang, in den Jahren 2011 bis 2013 sank die Zahl aller erfassten Straftaten erstmals auf unter sechs Millionen. Im Zuge der Migrationsbewegungen in den Jahren 2015 und 2016 stieg sie erneut auf über sechs Millionen, von 2017 bis 2021 hatten wir dann wieder einen deutlichen Rückgang – auch durch Corona bedingt. Seit 2022 steigt die Zahl wieder, und das setzt sich nun fort. Im größeren Zusammenhang muss man also sagen: 5,94 Millionen Straftaten sind wirklich nicht schön, aber wir liegen damit noch immer im langfristigen Mittel. Ich will nichts beschönigen, aber wir müssen das schon korrekt einordnen.

Gefährlichste Bahnhöfe 12.40

Immer wieder wird die PKS auch deshalb kritisiert, weil sie angeblich ein unvollständiges Bild der Kriminalität zeichne. Wie zuverlässig sind die Zahlen?

Die PKS spiegelt nur das sogenannte Hellfeld wider, also die amtlich bekannt gewordenen Straftaten. Die tatsächliche Kriminalität wird dadurch nicht zuverlässig abgebildet – häusliche Gewalt zum Beispiel wird selten angezeigt. Eigentlich bräuchten wir zusätzlich zu den polizeilichen Daten regelmäßige Dunkelfeldstudien. In Großbritannien und den USA gibt es seit Jahrzehnten solche periodischen Viktimisierungsstudien, die das sogenannte Dunkelfeld aufhellen sollen. In Deutschland hinken wir hinterher. 2012 und 2017 wurden erste Studien finanziert, die das BKA zusammen mit einem wissenschaftlichen Institut durchgeführt hat. 2022 wurde erstmals die „SKiD“-Studie veröffentlicht, was für „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ steht. Diese Untersuchungen sollen die Funktion von Dunkelfeldstudien einnehmen, werden aber verantwortlich vom BKA und den Länderpolizeien betrieben, einschließlich der Auswahl der gestellten Fragen. Glücklich bin ich damit nicht. Warum können das nicht wissenschaftliche Einrichtungen machen, die vom Innenressort und der Politik unabhängig sind? 

Hat die PKS noch andere Schwächen?

Sie erfasst keine Verurteilten, sondern lediglich Tatverdächtige, deren tatsächliche Schuld gerichtlich noch nicht feststeht. Gewisse Bereiche sind zudem komplett ausgenommen, etwa Staatsschutz- oder Verkehrsdelikte. Und natürlich kommt es bei der PKS wie bei jeder anderen Statistik auch zu Fehlern, vor allem durch die falsche Erfassung der vor Ort tätigen Polizeibeamten. Insgesamt muss man sagen: Die PKS ist kein exaktes Spiegelbild der Kriminalitätswirklichkeit, sondern unterliegt zahlreichen Verzerrungsfaktoren. Wenn man aber von der unsicheren Annahme ausgeht, dass die Verzerrungsfaktoren über mehrere Jahre gleich bleiben, kann man trotzdem gewisse Vergleiche über die Zeit anstellen – das und die relativ schnelle Verfügbarkeit von polizeilichen Daten ist ein Grund, weshalb die Kriminologie überhaupt mit der PKS arbeitet. 

Vor einigen Jahren sind Sie in einem Aufsatz der Frage nachgegangen, auf welchem Wege die erfassten Straftaten eigentlich in der PKS landen. Was haben Sie herausgefunden?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Mindestens 90 Prozent aller in der PKS enthaltenen Straftaten werden durch Privatleute angezeigt, nur zehn Prozent durch polizeiliche Ermittlungs- und Kontrolltätigkeit. Und da muss man natürlich fragen: Wer zeigt denn was aus welchen Motiven an?

Und?

Ein Beispiel: Ein Nichtdeutscher, der sich in Deutschland illegal aufhält, wird verprügelt – der kann ja gar nicht zur Polizei gehen, weil er sich selbst wegen des illegalen Aufenthalts der Strafverfolgung aussetzen würde. Umgekehrt werden Nichtdeutsche aber häufiger von der Polizei kontrolliert und von Bürgerinnen und Bürgern vermutlich auch eher angezeigt.

Aber Sie sagten es gerade selbst: Die Verzerrungsfaktoren ändern sich über die Jahre möglicherweise wenig, und nun weist die PKS eine gestiegene Zahl von Straftaten aus. Welche möglichen Gründe sehen Sie?

Vor allem drei Gründe. Erstens Corona. Wir hatten massive Kriminalitätsrückgänge während der Pandemie, es gab einfach viel weniger Tatgelegenheiten. Das ist vorbei, die Verhältnisse normalisieren sich wieder: Taschendiebstähle an belebten Orten, die während der Pandemie verwaist waren, sind wieder möglich. Wohnungseinbrüche sind wieder leichter, weil die Leute weniger zu Hause sind, Körperverletzungen häufen sich, weil die Leute wieder in den Vergnügungsvierteln Alkohol trinken. Die Pandemie könnte aber auch in soziologischer Hinsicht ein Faktor sein, gerade bei der Jugenddelinquenz. Die Corona-Maßnahmen haben Kinder und Jugendliche massiv beeinträchtigt und womöglich in ihrer psychosozialen Entwicklung geschädigt. Es gibt bislang keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die einen klaren Zusammenhang zur gestiegenen Kriminalität belegen würden, aber darüber sollten wir nachdenken. Zweiter Punkt: Die allgemeine Entwicklung nach Corona ist ja insgesamt eher unglücklich verlaufen, wirtschaftliche Sorgen samt Inflation, außenpolitische Großkonflikte mit enormer Verunsicherung. Davon kann man zwar nicht ohne Weiteres auf einen Kriminalitätsanstieg schließen, aber eine gewisse Korrelation zwischen Kriminalität und besonderen Problemlagen gibt es schon. Als dritten Grund sehe ich die gestiegene Migration.

Die öffentliche Debatte scheint sich bislang vor allem um Migration zu drehen. Die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen stieg von 2022 auf 2023 um 17,8 Prozent, die Zahl aller Tatverdächtigen dagegen nur um 7,3 Prozent. Warum sind Ausländer in der PKS derart überrepräsentiert?

Es liegt tatsächlich nahe, das mit Migrationsbewegungen in Verbindung zu bringen. In den Jahren 2015 und 2016 haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht. Ein großer Teil der erfassten Straftaten waren damals aber sogenannte ausländerspezifische Delikte, die durch Deutsche gar nicht begangen werden können, also zum Beispiel das Delikt „illegale Einreise“.

Den bisher bekannt gewordenen Zahlen zufolge verzeichnet auch die aktuelle PKS rund 93.000 Fälle von illegaler Einreise und 187.000 Fälle von unerlaubtem Aufenthalt.

Da sind wir ja schon bei 280.000 Fällen – von insgesamt knapp sechs Millionen Straftaten. Das halte ich für eine große Zahl. Jedenfalls muss man sich bewusst machen, dass das Delikte sind, die das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nicht beeinträchtigen dürften. Und dass man diese Deliktsarten eigentlich herausrechnen müsste, wenn man die Delinquenz von Deutschen und Nichtdeutschen vergleichen möchte. Wie gesagt: Ich will nichts bagatellisieren. Aber wir müssen verstehen, was da alles eine Rolle spielt.

Was spielt noch eine Rolle?

Unter anderem, dass vor allem Flüchtlinge in Deutschland in eine Situation geraten, in der sie ohne soziale Bindungen sind. Ohne soziale Bindungen neigen Menschen aber eher zu Straftaten – wer seine Liebsten um sich hat, will sich oftmals schon aus Furcht vor deren Reaktion nichts zuschulden kommen lassen. Bindung an die Gesellschaft entsteht auch dadurch, dass man Wert- und Normvorstellungen teilt und das Gefühl hat, eine Perspektive und Chancen zu haben. Rund Dreiviertel der Zuwanderer aber sind junge Männer, die allein herkommen und in Erstaufnahmeeinrichtungen landen, wo massive Probleme herrschen – und eben gerade keine Bindungen erzeugt werden. Dort bleiben sie dann teils über Monate und Jahre, und natürlich kracht es in diesen Einrichtungen, da werden ethnische und religiöse Konflikte ausgetragen oder ganz normale menschliche Auseinandersetzungen. In manchen Fällen erwarten die Familien im Herkunftsland auch noch, dass der Zuwanderer regelmäßig Geld nach Hause schickt. Was ich sagen will: Es gibt eine Reihe von besonderen Bedingungen, die dazu beitragen, dass Zuwanderer straffällig werden.

Wobei junge Männer von allen Bevölkerungsgruppen ohnehin am häufigsten Straftaten begehen.

Richtig. Eine ganz platte Erkenntnis aus der Kriminologie lautet: Delinquenz ist jung – und männlich.

Werden in Erstaufnahmeeinrichtungen mehr Straftaten als anderswo angezeigt, weil dort eine gewisse Überwachung herrscht, durch Sicherheitsdienst und Heimbetreiber?

Davon ist zumindest auszugehen.

Müsste eine differenzierte Debatte über die Kriminalität von ausländischen Tatverdächtigen nicht auch im Interesse der Polizei liegen?

Bis einschließlich 2019 veröffentlichte das BKA jedes Jahr noch das „Jahrbuch PKS“. Hunderte von Seiten, auf denen die nackten Zahlen für die Öffentlichkeit eingeordnet und von polizeilicher Seite aus bewertet wurden. Das war eine gute Sache, weil erst eine Einordnung durch die Polizei die Möglichkeit eröffnete, diese Einschätzungen – gegebenenfalls kontrovers – zu diskutieren. Unter dem Stichwort „Bewertungsprobleme“ stand da über all die Jahre immer eine Passage, die ich auch meinen Studierenden zeige und in der die Polizei selbst feststellte, dass ein Vergleich zwischen deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen „aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Zusammensetzung (Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur)“ kaum möglich ist. Zu den nichtdeutschen Tatverdächtigen hieß es unter anderem: „Sie leben eher in Großstädten, gehören zu einem größeren Anteil unteren Einkommens- und Bildungsschichten an und sind häufiger arbeitslos. Dies alles führt zu einem höheren Risiko, delinquent und damit als Tatverdächtige polizeiauffällig zu werden.“ Ich halte es für einen großen Fehler und für ein unentschuldbares Versäumnis der Polizei, dass das Jahrbuch nicht mehr erscheint. Es war für einen rationalen gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität und Sicherheit unverzichtbar.

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Auch bei den Gewaltdelikten besitzen 40 Prozent aller Tatverdächtigen keinen deutschen Pass. Im Lichte all dessen, was Sie gerade gesagt haben: Was halten Sie davon, wenn die Migration dafür verantwortlich gemacht wird, dass die Gewalt im Land ansteigt?

Natürlich spielt Migration eine Rolle und ist ein wichtiges Stichwort. Um die Kriminalitätsentwicklung aber zu verstehen, müsste man über all die Dinge nachdenken, die ich gerade erwähnt habe. Das passiert in der politischen Debatte nicht. Da wird das Problem dann verkürzt auf Aussagen wie: Die sind nicht anpassungsfähig oder -willig. Das ist auch deshalb so schädlich, weil die Gruppe der Nichtdeutschen extrem heterogen ist. Einerseits gibt es die Gruppe der jungen männlichen Zuwanderer – andererseits aber auch Leute, die hier seit 30 Jahren leben, ohne die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen zu haben. Wir haben auch ausländische Studierende, Fachkräfte, Touristen, auch Staatenlose. Das sind alles Nichtdeutsche. Es wäre absurd zu sagen, dass Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft per se dazu neigen, eher straffällig zu werden. Das Gleiche gilt für Menschen anderer Religionen. Es hängt immer mit anderen Faktoren zusammen.

Die Gruppe der deutschen Tatverdächtigen dürfte ähnlich heterogen sein. Wie sinnvoll ist es dann überhaupt, mit diesen beiden Kategorien zu arbeiten?

Genau das ist es ja. Die PKS unterscheidet zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, nicht aber zwischen unterschiedlichen Einkommens- oder Bildungsverhältnissen, nicht nach unterschiedlichen Lebenslagen. Die PKS ist mit vielen Problemen behaftet, aber das sieht die Öffentlichkeit häufig nicht. 

Was würden Sie sich wünschen für zukünftige Debatten über die Kriminalitätsentwicklung?

Wir müssen die Sache nüchterner angehen, die Debatte muss versachlicht werden. Dafür ist eine Verbesserung der beschämend schlechten Datenlage dringend erforderlich. Und das ist – das muss man so deutlich sagen – die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Politik.