Ein ehemaliger Regierungsinsider in Ungarn enthüllt Korruption und fordert Viktor Orbán heraus: Péter Magyar, ein aufstrebender Oppositionsstar in Ungarn, sorgt für Schlagzeilen und Proteste. Kann er dem rechtspopulistischen Premier gefährlich werden?

Ein Pädophilie-Skandal, Rücktritte hochrangiger Politikerinnen, Korruptionsvorwürfe, Schlammschlachten, geleakte Informationen eines ehemaligen Regierungsinsiders – und ein aufstrebender Oppositionsstar, der den autokratischen Regierungschef herausfordert. Es klingt wie der Stoff für eine neue Polit-Serie auf Netflix. Doch diese Themen dominieren seit Wochen die Schlagzeilen in Ungarn. Im Mittelpunkt des politischen Dramas an der Donau steht Péter Magyar, der als potenzielle Bedrohung für Ministerpräsiden Viktor Orbán gilt.

Seit Wochen protestieren in Budapest immer wieder Tausende, angeführt von Magyar, der bis vor Kurzem ein ranghohes Mitglied in Orbáns Regierungspartei Fidesz war. Er bekleidete hohe Positionen in der Verwaltung und in regierungsnahen Unternehmen. Innerhalb der Fidesz hatte der 43-jährige Magyar verschiedene Ämter inne und war mit der ehemaligen Justizministerin Judit Varga verheiratet, einer Schlüsselfigur in einer bedeutenden politischen Affäre Ungarns.  

Varga, selbst aufstrebendes Fidesz-Mitglied, sollte Spitzenkandidatin der Partei bei den Europawahlen im Juni werden. Mit ihrem Ex-Mann hat sie drei Kinder, das Quintett wurde in ungarischen Hochglanzmagazinen gerne als perfekte Familie in Szene gesetzt. Anfang 2023 ließ sich das Paar scheiden.STERN PAID Orbans Gaswitze 19.23 

Skandal um Begnadigung von verurteilten Missbrauchs-Helfern

Rund ein Jahr später geriet Varga in einen Skandal, der eine Lawine ins Rollen brachte: Im Februar wurde bekannt, dass die ungarische Staatspräsidentin Katalin Novak im April 2023 rund zwei Dutzend Personen begnadigt hatte. Unter ihnen war auch der stellvertretende Leiter eines Kinderheims, der wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Minderjährigen verurteilt worden war. Laut Urteil hatte er Kinder gezwungen, ihre Aussagen als Missbrauchsopfer gegen den Heimleiter zu widerrufen, um seinen Chef zu entlasten. Dieser hatte seit Jahren von den Missbrauchsfällen gewusst. Der Heimleiter wurde zu acht Jahren Haft verurteilt.  

Die Begnadigung löste in Ungarn Empörung aus, Tausende forderten Novaks Rücktritt, den sie schließlich einreichte. Auch für Varga wurde der Skandal zum Grab ihrer Karriere. Sie unterzeichnete besagte Begnadigung. Als Konsequenz legte sie alle ihre Ämter nieder und verabschiedete sich aus der Öffentlichkeit.

Ende Akt eins, Auftritt Péter Magyar.

Nach Novaks Rücktritt trat der Varga-Ex von allen seinen staatsnahen Ämtern zurück und ließ eine Bombe platzen: In einem Interview mit der ungarischen Plattform „Partizán“ auf Youtube rechnete er mit der Orbán-Regierung ab, warf ihr Oligarchie und Korruption vor. Wenige Familien in Ungarn hätten das Sagen. Besonders scharf prangert Magyar Antal Rogán an, der in Ungarn als Leiter des Kabinettsbüros neben den Medien auch für den Geheimdienst zuständig ist. Kritiker werfen ihm regierungsfreundliche Propaganda vor. Mehr als 2,4 Millionen Menschen haben das mehr als 90-minütige Interview angeklickt – bei mehr als zehn Millionen Einwohnern in Ungarn.Partizan

In einem Facebook-Post am 10. Februar, einen Tag vor dem „Partizán“-Interview, erklärte Magyar seine Beweggründe, warum er jetzt gegen das System Orbán aufbegehrt: „Ich möchte nicht eine Minute lang Teil eines Systems sein, in dem sich die wirklich Verantwortlichen hinter Frauenröcken verstecken.“ Gemeint sind Novak und Varga. Ihm sei mittlerweile deutlich geworden, dass es der Machtelite nur um eines gehe: „Verschleierung der Machenschaften“ und „Anhäufung von unermesslichem Reichtum“. „Wenn wir nicht wollen, dass unsere Kinder in einem Ungarn aufwachsen, das ein Familienunternehmen ist, dann ist es das wert, es zu ändern“, sagte er bei „Partizán“.

FS Orban, Putin, Alijew – Autokraten lieben die EM 20.40

Audio-Aufnahme bringt Ungarns Regierung in Bedrängnis

Magyar nutzt für dieses Anliegen geschickt die sozialen Medien, erklärt immer wieder, er habe Insiderinformationen aus dem Fidesz-Orbán-Komplex, die ihn zum Einsturz bringen könnten.

Einen Vorgeschmack gibt er am 26. März: Magyar veröffentlicht auf seiner Facebook-Seite eine Tonaufnahme, auf der angeblich er und seine Ex-Frau zu hören sind. In dem offenbar heimlich aufgenommenen Mitschnitt vom Januar 2023 soll es um einen Korruptionsfall in der Fidesz-Regierung gehen. Vargas ehemaliger Staatssekretär soll demnach hohe Bestechungsgelder kassiert haben, um im Gegenzug seine Zustimmung zu Stellenbesetzungen an Gerichten zu geben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in diesem Fall bereits seit 2021. Noch pikanter: Die Aufnahme soll belegen, dass die Regierung versucht haben soll, eine Verwicklung des Orbán-Vertrauten Rogán in eine Korruptionsaffäre zu vertuschen. Magyar hat die Aufnahme der Staatsanwaltschaft übergeben.FB Audio

Ob die Aufnahme echt ist, ist schwer zu sagen. Varga erklärte, Magyar habe sie zu der Aussage gezwungen bzw. unter Druck gesetzt. „Ich habe gesagt, was er hören wollte, damit ich so schnell wie möglich verschwinden konnte. In einer solchen Situation kann jede Person Dinge sagen, die sie nicht meint, wenn sie eingeschüchtert wird“, schrieb Varga auf Facebook. Sie stellte die Echtheit der Aufnahme zwar nicht infrage, schrieb aber weiter, Magyar benutze sie jetzt, um seine politischen Ziele zu erreichen. „Er ist es nicht wert, dass man ihm vertraut.“

Die Regierung reagierte zunächst nicht auf die Veröffentlichung der Aufnahne. Ein „Ehestreit“ habe „nichts mit dem öffentlichen Leben zu tun“, erklärte  Orbáns Stabschef Gergely Gulyás lediglich. Massenproteste gegen die Orbán-Regierung, angeführt von Péter Magyar, im März 2024
© Janos Kummer

Dennoch bringt die Aufnahme Tausende auf die Straße. Magyar ruft über seine Kanäle immer wieder zu Protesten auf, etwa zu einer Großdemo am 6. April. Die Demonstranten fordern nicht weniger als den Rücktritt der Regierung des Rechtspopulisten Orbán, den Magyar als „Kopf des Mafia-Staates“ bezeichnet. 

„Wir werden nicht zulassen, dass der größte politische und juristische Skandal der letzten dreißig Jahre vertuscht wird“, rief Magyar seinen Anhängern bei einer Demonstration zu. Ungarn müsse sich wieder seinen westlichen Verbündeten annähern, Staatsanwaltschaften und Medien im Land müssten wieder unabhängig von der Politik werden.  

„Lasst uns eine Kraft schaffen, der sich alle Ungarn mit guten Absichten, die für ihr Land arbeiten wollen, anschließen können“, rief Magyar den Demonstranten zu.

Regierungsnahe Medien verbreiten Negativ-Schlagzeilen über Péter Magyar

Dafür wolle Magyar eine Partei gründen, mit der er Ungarn aus dem Griff Orbáns befreien wolle. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Median könnte Magyar bei einer Wahl inzwischen auf neun Prozent der Stimmen hoffen – was eine von ihm geführte Partei zur stärksten Kraft in der zersplitterten ungarischen Opposition machen würde. Auf Facebook behauptete er sogar, eine von ihm gegründete Partei könne auf 20 Prozent kommen. Dies würden noch nicht veröffentlichte Umfragen zeigen.

Orbán wirkt angesichts seines neuen Gegenspielers nervös. Es scheint, als ob seine Strategie darin besteht, Magyar als Schurken darzustellen. Der Autokrat teilt dabei nicht selber aus. Er lässt ihm freundlich gesinnte Zeitungen und Fernsehsender Negativ-Schlagzeilen über Magyar produzieren – ein Kinderspiel, da Orbán viele Medien Ungarns auf seine Linie brachte.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk MTV berichtete etwa ausführlich über Aussagen Vargas in einem Interview über die Ehe mit Magyar. So habe dieser Varga in einem Zimmer eingesperrt, sei mit einem Messer durchs Haus gelaufen, aggressiv gewesen, habe den gemeinsamen Kindern Angst gemacht. Varga sei jahrelang häuslicher Gewalt ausgesetzt gewesen, heißt es in den MTV-Berichten.

Péter Magyar selbst äußerte sich auf Facebook zu den Aussagen seiner Ex-Frau. Er schrieb, Varga werde „von der Propaganda zum abscheulichen Zweck der politischen Diskreditierung“ missbraucht und bestritt, gegenüber seiner Frau handgreiflich geworden zu sein. Vielmehr habe sie ihn geschlagen.PAID STERN 2021_06 Interview Orban 18.00

Wie gefährlich wird Magyar für Orbán?

Andere Artikel behaupten, Magyar habe Verbindungen zum Netzwerk von George Soros, einem US-Investor ungarischer Herkunft, der als großer Kritiker Orbáns gilt. In einem weiteren MTV-Bericht ist wiederum von Magyars aggressivem Fahrstil die Rede, es gebe einen Polizeibericht über Magyar.

Auch die regierungsnahe „Magyar Nemzet“ veröffentlicht einen kritischen Artikel nach dem anderen, titelte etwa „Die zehn größten Lügen von Péter Magyar“. In anderen Artikeln wird er als „Messias der Linken“ bezeichnet, der sich auf einem „politischen Amoklauf“ befinde.

Bisher schien Viktor Orbán eine Teflon-Haut zu haben. Zahlreiche Vorwürfe und Proteste in den vergangenen Jahren konnten ihm kaum etwas anhaben, was auch an einer geschwächten Opposition lag. Hoffnungsträger wie der Kleinstadtbürgermeister Péter Márki-Zay scheiterten gegen den übermächtigen Orbán.

Das könnte sich nun ändern. Magyars Enthüllungen gelten als glaubwürdig, da er selbst in Orbáns Umfeld verkehrte. Viele sehen in der neuen Galionsfigur der Opposition eine Art „Kronzeugen“. Auch die diskreditierenden Berichte scheinen ihm bisher nicht zu schaden. Die nächsten Parlamentswahlen sind zwar erst 2026 – doch die aktuellen Proteste sind die größten seit Jahren und im Juni sind Europawahlen. Sie werden der erste Stimmungstest sein, für Orbán und Magyar.

Quellen: Nachrichtenagenturen AFP, AP, DPA und Reuters (1), Reuters (2), Interview Péter Magyar bei „Partizán“, „Blikk“, MTV (mehrere Artikel), RTL Klub, „Magyar Nemzet“ (mehrere Artikel), „Népszava“, „Neue Zürcher Zeitung“, Deutschlandfunk, „Politico“, „The Budapest Times“