Unsere Autorin ist 14 Jahre alt und trägt als einzige in ihrer Familie, die in Deutschland lebt, ein Kopftuch. In diesem persönlichen Text erklärt sie, warum.

Es war ein Abend im Oktober. Mein Vater und ich gingen gerade meine kleine Schwester von ihrer Freundin abholen, die ein paar Straßen weiter wohnt. Wir schwiegen. Es war kalt, ich fror, während ich versuchte, mir selbst Mut zu machen. Ich wollte meinem Vater endlich die Frage stellen, die ich schon so lange stellen wollte. Je näher wir zum Haus der Freundin kamen, desto nervöser wurde ich. Dann platzte es endlich aus mir heraus: „Papa, ich möchte anfangen, Kopftuch zu tragen“, sagte ich. Hinterher schob ich die Frage: „Was hältst du davon?“

Seit dem 30.Oktober 2023 trage ich das Kopftuch, obwohl es in meiner Familie hier in Deutschland niemand trägt. Ich tue es aus eigener Überzeugung. 

Schon als ich mit meinem Vater durch die Straßen ging, war mir klar: Es ist meine Entscheidung, das Kopftuch zu tragen. Aber ich wollte gerne wissen, was er davon hält und ob er vielleicht einen Ratschlag für mich hat. Ich hatte keine Angst vor dem, was er sagen würde, ich war einfach nur gespannt. Ich konnte nicht einschätzen, wie er reagieren würde. Mein Vater sagte, dass es meine Entscheidung sei. Und er betonte: „Wenn du das machst, dann zieh es auch durch. Überlege dir das ganz genau, du trägst damit auch eine große Verantwortung.“ Ich nickte nur. Ich war mir schon längst sicher. 

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Als wir zu Hause ankamen, setzten wir uns ins Wohnzimmer zu meiner Mutter. Ihr hatte ich von meinem Beschluss schon erzählt. Sie freute sich und wollte mich natürlich unterstützen. Im Gespräch empfahl mir mein Vater, auch mit meinen Lehrern darüber zu sprechen. Eine Sache gab er zu bedenken: Er meinte, dass es wegen des Israel- Palästina-Krieges gerade besonders kritisch wäre, ein Kopftuch zu tragen. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.

Auch muslimische Männer bedecken sich

Ich bin religiös aufgewachsen. Fast mein ganzes Umfeld ist muslimisch. Ich gehe jeden Samstag mit meiner Mutter und meinen zwei jüngeren Schwestern in die Moschee. Dort beten wir, lernen, den Koran zu lesen und vor allem zu verstehen. Meine Familie in Deutschland trägt nur in der Moschee das Kopftuch, ansonsten nie. Ich habe auch Familie in Afghanistan. Dort trägt es jede Frau. Bis zum Herbst 2023 habe ich mich kaum mit dem Thema Kopftuch auseinandergesetzt. Erst da wurde mir bewusst, dass Frauen in Afghanistan durch die Taliban gezwungen werden, das Kopftuch zu tragen. Das finde ich schrecklich. Dort wird versucht, dem Kopftuch eine „neue Bedeutung“ zu geben: Frauen sollen das Kopftuch für die Männer tragen. So verliert die eigentliche Bedeutung ihren Wert. Menschen denken dann, das Kopftuch stehe für „Unterdrückung“ oder „Zwang“. Ich finde das sehr schade, aber ich kann das nachvollziehen. Mir ging es genauso, bis ich mich richtig damit befasst habe. 

Inzwischen habe ich begriffen, wofür das Kopftuch steht. Ich finde, es zeigt, dass die Frau im Islam sehr wertvoll ist. Das Kopftuch trägt sie, um sich selbst vor den Blicken fremder Männer zu schützen, indem sie ihre Reize bedeckt. Sie bedeckt sich aber nicht für andere, sondern für sich selbst. Dazu sind im übrigen auch Männer verpflichtet. Bei ihnen ist es die Partie vom Bauchnabel bis unterhalb des Knies.

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Mein Entscheidungsprozess begann damit, dass sich mein Freundeskreis veränderte. Von meinen neuen Freundinnen tragen drei ein Kopftuch. Eine von ihnen fragte mich, warum ich denn keines trage, obwohl ich Muslima bin. Ich war überrascht. Nicht wegen der Frage, sondern, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten soll. Da begann ich mir selbst Fragen zu stellen: Wie kann es sein, dass es mir so schwer fällt, diese Frage zu beantworten, wenn ich mir doch so sicher war, niemals ein Kopftuch zu tragen? Warum habe ich mich dagegen entschieden?

Das Kopftuch, ein Tabu-Thema

Rückblickend kann ich sagen, dass ich einfach nicht genug informiert war. Ich konnte mir nie ein eigenes Bild vom Kopftuch machen, da es in meiner Familie kein Thema war. So hörte ich von anderen oftmals viele negative Kommentare. Zum Beispiel: „Das Kopftuch ist ein Zeichen der Unterdrückung“; „Man macht es nur für den eigenen Mann“ oder „Man wird dazu gezwungen“. Bis ich mich also selbst damit beschäftigte, war das Kopftuch wie ein Tabu-Thema: Niemand redete gerne darüber und wenn, dann nur Schlechtes. Mir aber ging die Frage, weshalb ich eigentlich kein Kopftuch trage, nicht mehr aus dem Kopf. Wenn in der Moschee darüber Gespräche geführt wurden, hörte ich aufmerksam zu. Ich stellte viele Fragen.

Kurz vor den Sommerferien 2023 war ich mir dann endgültig sicher: Ich möchte Kopftuch tragen.

Von nun an trug ich es, wenn ich samstags zur Moschee ging, schon auf dem Hin- und Rückweg. Ich wollte gucken, wie es sich anfühlt. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht mal wirklich bemerkt, dass ich ein Kopftuch trage. Das hatte ich ganz anders erwartet: Ich hatte mit komischen Blicken und Sprüchen gerechnet. Ich dachte, dass alle Augen auf mich gerichtet wären. Aber das war nicht der Fall. Stattdessen lächelten mich viele an – oder beachteten mich gar nicht, aber im positiven Sinne. 

Meine Freundin sagte erstmal nichts

Nach den Herbstferien trug ich das Kopftuch immer, auch in der Schule. Ich erinnere mich noch genau an den ersten Tag nach den Ferien. Um sieben Uhr ging ich allein aus dem Haus. Es war ein kälterer Tag, mit etwas Nieselregen. Ich trug ein schwarzes Kopftuch, einen schwarzen Kapuzenpullover, darüber eine schwarze Jacke, um so unauffällig wie möglich zu wirken. Etwa auf halbem Weg zur Bushaltestelle sah ich meine Freundin. Sie lief mir entgegen, wir begrüßten uns und dann: Stille. 

„Fällt dir nichts an mir auf?“, fragte ich: „Du trägst Kopftuch“, antwortete sie ganz trocken. Ich war verwirrt. „Überrascht dich das nicht?“ Meine Freundin antwortete: „Nein, ich hatte ein Gefühl, dass du es bald tragen wirst. Ich habe gemerkt, dass du dich mehr damit beschäftigt hast. Bei mir war es genauso.“ Wir beide fingen an zu lachen. Als wir dann im überfüllten Bus standen, weil es keine Sitzplätze mehr gab, trafen wir noch mehr Freunde. Sie freuten sich für mich. Das fand ich sehr schön. 

„Trägst du ein Kopftuch oder eine Mütze?“

Um acht Uhr begann der Unterricht. Nach ungefähr fünf Minuten kam mein Lehrer zu mir und fragte: „Trägst du ein Kopftuch oder eine Mütze?“ Ich erklärte ihm, dass ich mich dazu entschieden habe, ein Kopftuch zu tragen. Er war erstaunt. Er fragte, ob ich ihm erklären könne, wie es dazu kam. Da er sehr freundlich und auch mit Interesse gefragt hatte, beantwortete ich ihm seine Frage gern. Die meisten in der Schule haben sich für mich gefreut. Einige haben gar nichts dazu gesagt. Das ist meiner Meinung nach immerhin besser, als etwas Schlechtes zu sagen. 

Ich habe auch auf den Rat meines Vaters gehört und mit meiner Klassenlehrerin darüber gesprochen. Sie war sehr offen und sagte mir, dass sie es gut finde, dass ich mein Interesse durchsetze. Jedoch hatten wir an diesem Tag in der Schule auch über den Krieg im Nahen Osten gesprochen. Meine Lehrerin fragte mich, ob ich das Kopftuch tragen würde, damit man besser sieht auf welcher „Seite“ ich bin. Ich war verwirrt. Drückt das Kopftuch das wirklich aus? Denken Leute das wirklich? Ich sagte ihr, dass ich damit überhaupt nicht zeigen wolle, auf welcher Seite ich stehe. Das hat für mich nichts miteinander zu tun: Dass ich Kopftuch trage und der Krieg. 

Ist das Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung? Feminismus Kopftuch Umfrage Pola Sarah Nathusius Merve Kayikci Alice Schwarzer 1410

Negative Erfahrungen gehören für mich dazu

In meiner Familie fielen die Reaktionen unterschiedlich aus: Die Familie in Afghanistan, die sehr religiös lebt, hat sich sehr für mich gefreut. Anders war es bei meiner Familie in Deutschland. Sie waren von meiner Entscheidung überrascht. Sie sagten mir, dass ich dadurch nur mein Leben schwieriger mache. Für mich gehören negative Erfahrungen irgendwie dazu. Ich weiß, dass ich einige machen werde. Erfreulicherweise sagte meine Familie in Deutschland nach der Überraschung: „Wir unterstützen dich trotzdem immer auf deinem Weg.“ Das hat mich besonders berührt. 

Ein halbes Jahr lang trage ich nun das Kopftuch. Meine Entscheidung bereue ich nicht. Es hat mir dabei geholfen, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln. Ich fühle mich sicherer und geschützter. Am Anfang habe ich mich noch ein bisschen versteckt, aber damit habe ich aufgehört. Obwohl ich über meine Entscheidung froh bin, kann ich verstehen, dass es nicht jedermanns Sache ist. Aber ich finde, dass man, egal für was man sich entscheidet, respektiert werden sollte. Wenn man etwas wirklich mit dem Herzen tut und dafür auch brennt, sollte einem nichts im Weg stehen. Nur sollte man sich gut informieren, bevor man Entscheidungen trifft. Das möchte ich mit meiner Geschichte zeigen. 

Die Autorin hat in der Redaktion des stern ein Schülerpraktikum absolviert, so kamen wir in Gesprächen auf das Thema Kopftuch.