In Amazons Supermärkten nahm man die Waren aus dem Regal – und ging dann einfach. Bezahlt wurde automatisch. Nun macht der Konzern eine Kehrtwende.

Es sollte eine vollkommen neue Einkaufserfahrung werden: Als Amazon die ersten Ladengeschäfte seiner Lebensmittelsparte Amazon Fresh eröffnete, brachten die ein revolutionäres Konzept mit sich – und verzichteten vollständig auf Kassen. Doch offenbar war der Konzern bei der technologischen Umsetzung zu optimistisch: Statt vollautomatisch funktionierte das System nur dank einer Armee von indischen Hilfsarbeitern. Nun wird das ganze Konzept in den Supermärkten über Bord geworfen.

Das erklärte der zuständige Amazon-Manager Tony Hoggett gegenüber „The Information“. Das bisherige Konzept der Läden beruhte auf einem Prinzip, das Amazon „Just Walk Out“ (Etwa: Geh einfach raus) nannte. Die Kunden konnten sich die Waren einfach aus dem Regal nehmen, sie wurden beim Verlassen des Ladens automatisch vom Amazon-Konto abgebucht. Mit einem Umbau der bestehenden Geschäfte sollen die Systeme nun abgebaut werden, so Hoggett.

Just Walk Out: Supermärkte ohne Kasse

Der kassenlose Supermarkt war der Kern von Amazons Plan, den Einzelhandel neu zu denken. Statt sich an Schlangen anzustellen und die Produkte einzeln abscannen zu lassen, sollten sich die Kunden ganz auf das Einkaufserlebnis konzentrieren können. Abgerechnet wurde über ein Amazon-Konto, mit dem man sich am Eingang anmelden musste. Es war der Versuch, die Vorteile des Online-Shoppings in den Einzelhandel zu bringen.PAID – Katharina Zweig über Künstliche Intelligenz 18:21

Doch offenbar war Amazon bei seinen Erwartungen an den technischen Fortschritt zu optimistisch. Die Läden setzten eigentlich auf KI und jede Menge Sensortechnik im Laden, um die Kunden und ihre Einkäufe zu erkennen. Doch das funktionierte auch Jahre nach der Eröffnung des ersten Ladens 2016 im Amazon-Hauptquartier offenbar alles andere als zufriedenstellend. Statt alles automatisch ablaufen zu lassen, müssen mehr als 1000 Amazon-Angestellte in Indien ständig die Kamera-Aufnahmen prüfen, um Fehler auszuschließen. 

Hohe Fehlerquote

Und das nicht nur in Ausnahmefällen: Von 1000 Käufen müssten 700 händisch geprüft werden, berichtete „The Information“ schon letztes Jahr. Amazon hatte demnach eigentlich damit gerechnet, die Quote mit KI-Verbesserungen unter 50 von 1000 Käufen drücken zu können. Amazon widersprach dieser Darstellung allerdings gegenüber „Gizmodo“, sprach nur von einer kleinen Anzahl von Käufen, bei denen eine menschliche Prüfung nötig sei.

Allerdings würde der Bericht die Einstellung des Angebots durchaus erklären. Wären tatsächlich so viele Prüfungen nötig, wäre der Kassierer in der Praxis lediglich nach Indien verlagert worden, während gleichzeitig eine extrem teure Infrastruktur betrieben werden musste. Auch ein Ärgernis für die Kunden ist so besser zu verstehen: Laut zahlreichen Berichten erschien die Abrechnung oft erst Stunden nach dem Einkauf im Mail-Eingang, eine Prüfung im Laden wurde unmöglich. Würden die Rechnungen tatsächlich erst nach einer menschlichen Prüfung erstellt und freigegeben, wäre diese Verzögerung leicht zu erklären.

Amazon baut um

Die Umrüstung der Läden sollen diese Nachteile nun auffangen. Statt die Waren beim Herausnehmen aus dem Regal erkennen zu müssen, werden sie nun von Amazons smarten Einkaufswagen erfasst, wenn man sie hineinlegt. Eine echte Revolution ist das in den USA nicht mehr: Dort sind Einkaufswagen bereits jetzt schon oft mit Scannern ausgestattet, mit denen die Kunden die Waren schon beim Weg durch den Laden selbst abscannen können. 

Im Vergleich zu dieser Technologie hat Amazons Ansatz nur noch einen kleinen Vorteil: Der Wagen scannt die Produkte mit einem Lasernetz selbst ab, eine Waage im Boden erfasst gleichzeitig das Gewicht. Ein kleines Display an der Schiebestange zeigt dann den Gesamtwert des Einkaufs an. Das berichtet ein Reddit-Nutzer aus Amazons Heimat Seattle, dessen Supermarkt schon umgestellt wurde.Die Boss mit Katharina Zweig9.54

Ganz will Amazon seine Automatisierungs-Technologie aber nicht aufgeben: In den kleineren Ladengeschäften Amazon Go und den britischen Ablegern von Amazon Fresh sollen weiter die Just-Walk-Out-Systeme erhalten bleiben. Man will sie außerdem auch an Drittgeschäfte lizensieren, so Hoggett.

(K)eine neue Übermacht

Der Vorstoß in den Einzelhandel wird bei Amazon als wichtigster Weg gesehen, um in den lukrativen Markt mit Lebensmitteln einzusteigen. Der Konzern versucht seit Jahren hier Fuß zu fassen, übernahm 2017 die US-Supermarktkette Wholefoods. Der Internet-Gigant tut sich damit aber schwerer als erwartet. Man suche noch „nach der richtigen Formel“ zur Eroberung des Einzelhandels, erklärte Amazon-Chef Andy Jassy im letzten Jahr in einem Brief an die Investoren. Der US-Lebensmittelmarkt hat sich in den letzten Jahren durch den Siegeszug der Discounter stark verändert, vor allem Aldi ist mit Tausenden Geschäften enorm erfolgreich. 

Amazon dagegen hatte in letzter Zeit eher Läden geschlossen. Um mehr Nicht-Amazon-Kunden anzusprechen, will der Konzern von seiner Revolution noch einen Schritt weiter zurückgehen, erklärte Hogett gegenüber „The Information“: Man werde wieder die Möglichkeit anbieten, auch ohne Account zu bezahlen. An einer klassischen Kasse.

Quellen:The Information, Gizmodo, ABC, Reddit