Die Zeitumstellung sollte schon längst abgeschafft werden, doch die Politik sitzt das Thema aus. Das fördert Politikverdrossenheit und Misstrauen gegen die EU – wovon letzterdings die Rechten profitieren.

In den nächsten Tagen werden Menschen sterben. Mehr als sonst. Bei Unfällen, die hätten vermieden werden können. Weil die Leute unausgeschlafen in ihren Autos sitzen, ihr Biorhythmus durcheinander gebracht worden ist. Schuld ist, na klar, die Zeitumstellung. Das ist keine plumpe Propaganda, sondern erwiesen: Forscher der University of Colorado in Boulder untersuchten fast 733.000 Unfälle zwischen 1996 und 2017. In der Woche nach der Zeitumstellung stieg die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle im Schnitt um sechs Prozent. Das entspricht etwa 28 Unfällen pro Jahr. Am gefährlichsten ist es in den frühen Morgenstunden. Eine britische Studie kommt zu ähnlichen Ergebnissen. 

Zeitumstellung pro

In den nächsten Tagen werden viele Kinder leiden. Sie werden quengelig sein und sich in der Schule schlechter konzentrieren können: Studien belegen, dass die fehlende Stunde Schlaf ihren Biorhythmus durcheinander bringt und zu einem Leistungsabfall in der Schule führt – zwischen 30 und 40 Prozent. Sie schneiden, grob gerechnet, eine Note schlechter ab.  

In den nächsten Tagen werden mehr Menschen in Deutschland ins Krankenhaus müssen. Weil ihr Herz aus dem Takt geraten ist. Auch das ist durch Studien belegt. Die Zahl der Herzpatienten steigt nach der Zeitumstellung um 25 Prozent. Nicht alle werden überleben. 

Mehr Verkehr durch Zeitumstellung 

Die Zeitumstellung wurde 1980 eingeführt, um Energie zu sparen. Sie war eine Reaktion auf die Ölkrise. In der Schule schrieben wir damals Aufsätze über den Sinn der Zeitumstellung. Erörterungen. Für und Wider. Aber es war klar: Die Vorteile überwogen, angeblich. Ich meine mich zu erinnern, dass die Diskussion ideologisch aufgeladen war. Dass die Zeitumstellung keine Energie spart, steht inzwischen sogar auf den Seiten des Umweltbundesamtes. Im Gegenteil. Sie sorgt für mehr Straßenverkehr: „Die längere Tageshelligkeit am Abend kann zu einem veränderten Freizeitverhalten führen und mit einem Mehrverbrauch im Verkehr und in den Freizeiteinrichtungen verbunden sein.“ Die Leute, die sich jetzt freuen, dass es abends eine Stunde länger hell bleibt, sind unverbesserliche Romantiker. Es gibt doch wahrlich Wichtigeres, als eine Stunde länger im Garten zu grillen.

Zeitumstellung Umfrage19.15

Fakt ist: Die Zeitumstellung schadet mehr, als sie nutzt. Die Menschen sind es leid, ihre Uhren umzustellen. Über 80 Prozent der Bürger und Bürgerinnen, die 2018 an der EU-Online-Umfrage zur Zeitumstellung teilgenommen hatten, wollten sie abschaffen. 4,6 Millionen Leute hatten ihre Stimme abgegeben. Es war die erfolgreichste Umfrage in der EU-Geschichte. Die DAK hat kürzlich noch mal nachgehakt: 74 Prozent hält die Zeitumstellung „für überflüssig und würde sie abschaffen“. 30 Prozent der Befragten klagen über gesundheitliche Folgen. Das sei ein „Rekord innerhalb der letzten zehn Jahre“, fasst die Krankenkasse das Ergebnis ihrer repräsentativen Forsa-Umfrage zusammen und warnt: „Immer mehr Menschen haben Gesundheitsprobleme nach der Zeitumstellung.“

Die Politik sitzt das Thema aus

Die Sache ist also klar: Die Zeitumstellung fordert Todesopfer, sie schadet der Gesundheit, spart keine Energie und die Menschen wollen sie nicht. Doch es geschieht – nichts. Nach der Umfrage stimmte das Europäische Parlament 2019 für die Abschaffung der Zeitumstellung. Mit deutlicher Mehrheit. Ein fast vier Jahrzehnte andauernder Feldversuch stand scheinbar vor dem Ende. 2021 sollte Schluss sein. Allerdings können sich die Mitgliedstaaten nicht einigen, ob nach der Abschaffung Sommer- oder Winterzeit gelten soll. Die Länder – also die 27 EU-Staaten – kommen nicht in die Puschen. So bleibt alles beim Alten. Die Politik sitzt das Thema aus. Das sorgt für Frust, der sich zum Beispiel auf Facebook entlädt. 

„Es waren 40 besch… Sommer für mich, da meine innere Uhr den Mist nicht mitmachen wollte. Jedes Jahr 7 Monate nachts eine Stunde zu wenig geschlafen. Es war die Hölle! Jetzt bin ich in Rente, da ist das nicht mehr so gravierend“, schreibt eine Facebookerin. „Es ist überfällig, das krachend gescheiterte Experiment ,Sommerzeit‘ abzuschaffen“, fordert Thomas S. Auch er folgt der Gruppe „Zeitumstellung-Abschaffen“, die über 24.000 Follower hat. „Seit ein paar Jahren“ schreibe er ans EU-Parlament und „einzelnen Politikern“, beschwert sich Frank S. „Bis heute bekam ich dazu KEINE Antwort.“ Die Gruppe „Pro Zeitumstelllung“ hat gerade mal 167 Follower. 

Der Wille der Menschen wird ignoriert

Es ist unfassbar, wie die Politik den Willen der Bürgerinnen und Bürger ignoriert. Der Bundestag sollte sich auf eine neue Zeit verständigen. Ging vor 1980 auch. Dass es in der EU dann verschiedene Zeitzonen gäbe – tja, ist halt so. Es gibt schon jetzt drei. Die Welt lebt seit jeher damit, dass ihre Uhren unterschiedlich ticken. Der Zeitunterschied zwischen Deutschland und den USA beträgt, je nach Zeitzone, zwischen sechs und neun Stunden. 

Das Aussitzen indes fördert die Politikverdrossenheit und ist brandgefährlich. Schon in der Coronazeit hatten die Leute – und zwar nicht nur irgendwelche Querdenker – das Gefühl, bevormundet zu werden. Kinder durften nicht zur Schule, Masken mussten sogar draußen getragen werden, es gab Ausgangssperren nach Mitternacht, die Polizei rückte einem mit dem Maßband zu Leibe, wenn man zu nahe nebeneinander saß. Derzeit streiten die Parteien um die Aufarbeitung jener Jahre. 

Wenn die Politik nicht endlich reagiert, entfernt sie sich noch weiter von den Menschen. Ignoranz schürt Politikverdrossenheit, und in diesem Fall auch Misstrauen gegen die EU. Ignoranz treibt den Rechten die Stimmen zu. Die AfD plädiert für die Abschaffung der Zeitumstellung, im Bundestag sitzt sie schon. Und wartet auf ihren Durchbruch bei den nächsten Landtagswahlen. Das könnte der Anfang sein. Für eine Zeitumstellung ganz anderer Art.