Jikal Hassan hat als erste deutsch-kurdische Athletin bei der Longboard-WM in Eindhoven ernsthafte Chancen auf einen Titel. Ein Gespräch über ihre kurdischen Wurzeln, die Philosophie hinter dem Longboard-Fahren und warum sie sich bisher nicht politisch in den sozialen Medien äußert.

Jikal Hassan, im Irakkrieg von 1991 wurden Kurdinnen und Kurden in ihren Bestrebungen nach Autonomie militärisch angegriffen und unterdrückt. Du wurdest mitten in diesem Krieg im Jahr 1991 geboren. Wie hat dieser Krieg Dein Leben beeinflusst?

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr habe ich in Kurdistan/Irak gelebt. Meine Onkel waren Peschmerga und kämpften im Krieg. Sie wollten, dass wir Kurd*innen in unserer eigenen Heimat ein Leben in Würde führen können. Das hat aber nicht funktioniert. Die Flucht nach Deutschland war für unsere Familie der einzige Ausweg. Bis heute tragen meine Familie und ich diese Traumata in uns. Als Reaktion auf die Angst vor unvorhersehbaren Ereignissen hortet meine Mutter zum Beispiel immer noch Lebensmittel. Die Kriegs- und Fluchterfahrungen haben tiefe Narben hinterlassen, und das Verarbeiten der Ängste ist und bleibt ein ständiger Prozess.

Wie habt Ihr Euch als Familie in Deutschland eingelebt?

Im Winter 1996 landeten wir erstmal in einer Flüchtlingsunterkunft in Celle, bis wir die erforderlichen Papiere erhielten, um bleiben zu können. Danach fanden wir Unterkunft bei einer deutschen Familie in Hannover und haben dort für einige Monate gelebt, bis wir unsere eigene Wohnung beziehen konnten. 

Den Rest der Familie hinter sich zu lassen, war furchtbar. Ohne Sprachkenntnisse standen wir vor bürokratischen Hürden. Unter den heutigen Bedingungen hätten wir damals mit großer Sicherheit kein Asyl bekommen und wären wieder zurückgeschickt worden.

Wie haben Dich Deine Erfahrungen als Flüchtlingskind in Deutschland geprägt?

Ich habe früh angefangen zu arbeiten und bin schneller erwachsen geworden als meine Schulkamerad*innen. Ich glaube, dass es mir heute deshalb leichter fällt, mich immer wieder neuen Herausforderungen im Leben zu stellen. PAID 43_22 Mode inspiriert vom Skaten 14.38

Als Flüchtlingskind in Deutschland musste ich überdurchschnittlich gute Leistungen erbringen, um überhaupt Anerkennung zu finden. Ich habe ehrenamtlich gearbeitet, weil ich der Gesellschaft hier etwas zurückgeben wollte. Wenn man als Kind von Immigranten aufwächst, dann steht man in der Regel vor der Herausforderung, es sowohl der eigenen Kultur, als auch der deutschen Kultur recht machen zu müssen. Das ist sehr anstrengend, und ich kann bis heute nicht genau einschätzen, ob es eher belastend war oder mir etwas gegeben hat. 

Du bist mit Deinen Brüdern aufgewachsen. Musstest Du Dich als junge Frau beweisen?

Ich habe viel mit meinen Brüdern unternommen, war mit ihnen Fußball spielen oder Skaten, was für ein Mädchen aus kurdischen Kreisen untypisch war. Das hat mich aber gerade deshalb gereizt und herausgefordert. Es ging dann um meine Persönlichkeit und weniger um kulturelle Stereotype. 

Trainingseinheit auf dem Tempelhofer Feld
© Edward Clark

Heute bist Du als Profisportlerin aktiv. Am 30. März startet die Longboard-WM in Eindhoven, und Du bist dabei. Wann hat sich Deine Leidenschaft für das Longboardfahren entwickelt?

Das erste Mal stand ich auf einem Longboard, als mir eine Freundin in Hannover ihr neues Board geliehen hat, das war etwas Neues. Da ich schon skaten konnte, war es für mich einfach, mich auf die Besonderheiten des Longboards zu konzentrieren: Durch den vielen Platz auf dem Board habe ich versucht, beim Fahren darauf zu tanzen – und das hat funktioniert. Dann ist im Internet plötzlich dieses Video von der Longboard Girls Crew aus Spanien aufgetaucht, die so eine wahnsinnige Lebensfreude beim Fahren ausgestrahlt haben, dieses Lebensgefühl hat mich beeindruckt, das wollte ich auch.

Wie würdest Du einem Menschen, der noch nie vom Longboardfahren gehört hat, die Philosophie dahinter erklären?

Longboardfahren ist eine Reise zur Selbstfindung. Der Sport erfordert viel geistige Arbeit, und Skater*innen wird nachgesagt, ein wenig verrückt im Kopf zu sein. Wenn verrückt sein bedeutet, mentale Stärke aufzubauen, sich jedes Mal mit dem möglichen Scheitern zu konfrontieren, hinzufallen, jedes Mal wieder aufzustehen, dann würde ich mir wünschen, dass alle Menschen dieses verrückte Mindset hätten. Der Kickflip ist ein plastisches Beispiel dafür, wie viel Arbeit und Misserfolg hinter der scheinbaren Leichtigkeit eines Skate- und Longboardtricks stecken: beim Kickflip springt man hoch, und während man sich in der Luft befindet, dreht sich das Brett in der Horizontalen einmal um die Längsachse. Wenn das Board auf dem Boden aufkommt, zeigt die Standfläche wieder nach oben, und man landet auf dem Brett und fährt weiter. Um das zu schaffen, muss man diesen Trick hunderte Male üben. Aber dann steht man, dann hat man’s geschafft. PAID STERN 2020_02 „Kampf ist mein Name“ 6.30

Die Besonderheit des Sports liegt auch darin, dass er noch in den Kinderschuhen steckt und man jetzt die Möglichkeit hat, ihn mitzugestalten und zu formen. Wir sind gerade, dabei, die Grundlagen für die nächste Generation zu legen, auch das ist Teil der Selbstfindung und Freiheit in diesem Sport.

Bietet Longboardfahren einen offenen Zugang für alle Geschlechter?

In den letzten Jahren habe ich eine riesige Veränderung erlebt, besonders auf Wettbewerben sieht man immer mehr Frauen. Als ich vor fast 13 Jahren mit dem Longboarden angefangen habe, hatte ich das Gefühl, mich zwischen den Jungs als Mädchen beweisen zu müssen. Damals hätte ich mir gewünscht, mehr Gleichgesinnte zu finden. Heute gibt es viel mehr Werbung und Sichtbarkeit von Frauen im Skate- und Longboarden. Neueinsteiger*innen haben jetzt auch weibliche Vorbilder wie die Olympia-Siegerinnen im Skateboarding, Leticia Bufoni oder Rayssa Leal. Trotzdem erlebe ich nach wie vor Vorurteile, wenn ich mit meinem Longboard unterwegs bin, auch in Skateparks. Ich muss erst zeigen, was ich kann, um von der lokalen Community akzeptiert zu werden.

Auf Instagram teilst Du Videos von Deinen Trainingseinheiten, in denen Du Dich aktiv auf die Weltmeisterschaft vorbereitest. Wie sieht so eine Meisterschaft aus und an welchen Disziplinen nimmst Du teil?

Bei der WM gibt es zum einen Wettbewerbe, die nach Geschlecht aufgeteilt sind. Aber es gibt auch eine „Open“-Klasse, in der Männer und Frauen gleichberechtigt antreten, und Wettbewerbe für Kinder und Jugendliche.

Ich nehme dieses Jahr an drei verschiedenen Disziplinen teil: Best G-Turn, Dance und Hippy Jump. G-Turn ist ein Manöver, bei dem man mit dem Board vorne oder hinten balanciert und dabei die Form eines „G“ zeichnet; die ganze Zeit über dürfen aber nur zwei Räder den Boden berühren. Beim Hippy Jump springt man über Hindernisse, und beim Dance & Freestyle tanzt man auf dem Board. Dabei kommt es auf die Kreativität, den Schwierigkeitsgrad der Tricks und auf die Kombinationen an. 

Welche persönlichen Ziele setzt Du Dir für die Zukunft im Longboard-Sport?

Ich will den Sport formen und voranbringen. Ich will meine Longboardschule weiter etablieren und den Nachwuchs begeistern. Sport hat mir immer einen Anker gegeben, ich habe mein ganzes Leben in Vereinen verbracht und die Gemeinschaft dort war immer mein Halt.

Keine Ahnung, wo ich in meinem Leben heute ohne diese Erfahrungen wäre. Ich wünsche mir, dass junge Menschen wieder mehr nach draußen gehen, sich bewegen und nicht nur stundenlang vor dem Bildschirm sitzen. Und ich wünsche mir, dass junge Frauen mit Fluchtgeschichte oder Migrationshintergrund sich trauen, solche Angebote wahrzunehmen und daran zu wachsen. Sport und Bewegung müssen dringend wieder einen höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft einnehmen. Dazu will ich beitragen.

Du bist durch Deine Migrationsgeschichte stark politisch geprägt. Trotzdem nutzt Du Deinen Instagram-Account nur für Deinen Longboard-Content. Warum nutzt Du Deine Reichweite in den sozialen Medien nicht, um auch politische Inhalte zu teilen?

Ich versuche durch meinen Content Emotionen, Freude und Inspiration zu wecken, was natürlich oft mit unserer politischen Realität kollidiert. Ich glaube, dass Sport und Politik vereinbar sind und man durchaus Zeichen setzen kann, so wie zum Beispiel die Frauen im Iran, die bei der Fußball-WM ihr Kopftuch abgesetzt haben. Ich stehe dabei aber vor einem Zwiespalt: Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nicht die Richtige bin, die sich politisch äußern sollte. Obwohl ich als Juristin mit Fluchterfahrung ja eigentlich Expertin bin. Aber die Idee, auf Instagram politischer zu werden, gefällt mir. Ich bin mein ganzes Leben politischen Entscheidungen anderer ausgesetzt gewesen, das gehört zu meiner Identität. Ich will das sichtbarer machen.

Welchen Rat würdest Du jungen Kurd*innen geben, die ähnliche Träume haben?

Dass sie ihre Geschichte und die ihrer Familie trotz der Traumata nicht als Hindernis betrachten, sondern vielmehr als Quelle von Stärke und Resilienz. Aus dem Kampfeswillen, der uns Kurd*innen nachgesagt wird, sollten wir immer wieder Kraft schöpfen. So ein Kampf zwischen den Kulturen, in denen man aufwächst, kann eine positive Herausforderung sein. Als Frau, als Kurdin und als Teil unterschiedlicher Gesellschaften ist es entscheidend, genau diese Stärke weiterzuentwickeln.